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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Birmingham
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Straßenseite im Auge.
    »Ich will dir mal eine Geschichte erzählen«, sagte er, als er sich immer mehr für sein Thema erwärmte und darüber sein Mittagessen vergaß. »Als ich 1992 nach Deutschland kam, wurde ich Volontär bei der Deutschen Welle. Ich wurde genommen, weil ich einen interessanten persönlichen Hintergrund hatte und wegen meiner Sprachkenntnisse. Ich spreche fünf Sprachen fließend, wusstest du das?«
    »Bret hat mal so was erwähnt«, sagte sie und nickte. Zwei Frauen in Burkas verschwanden zusammen mit ihren männlichen Schatten hinter der Gittertür gegenüber.
    »Der Flug von Amman machte einen Zwischenstopp in der Türkei, wo viele Migranten einstiegen. Familien von Gastarbeitern. Einer von ihnen setzte sich neben mich. Er sah wie ein Ziegenhirte aus, und das war er auch, jedenfalls besaß er einen Bauernhof mit Ziegen irgendwo in der Nähe von Nevsehir. Er war noch nie zuvor geflogen. Womöglich war er noch nie in einem Gefährt mit Motorantrieb unterwegs gewesen. Ich musste ihm den Sicherheitsgurt festmachen. Ihm zeigen, wie der ausklappbare Tisch funktioniert. Ihn zur Toilette führen. Ich weiß nicht, was er da drin gemacht hat, aber ich habe gehört, wie sich die Crew später heftig darüber beschwerte. Er saß neben mir
mit dieser Kappe und seinen Sandalen und fummelte an seiner Gebetskette herum. Er war nur wenige Zentimeter entfernt, aber unerreichbar für mich. Er lebte in einer anderen Zeit. In einer anderen Welt. Falls er noch lebt, ist er immer noch in dieser Welt, auch wenn er seit fünfzehn Jahren in Deutschland wohnt. Sein Körper ist vielleicht hier, aber seine Gedanken und seine Seele bleiben in der Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die er für viel wertvoller hält als alle Errungenschaften der Neuzeit.«
    Sie nippte an ihrem Tee und sah ihn mit neuen Augen. Er wirkte angespannt, seine Kaumuskeln traten hervor, weil er die Zähne zusammenpresste. Am Rand ihres Gesichtsfelds nahm sie den alten Kellner wahr und zwei Männer, die sich gerade auf der anderen Seite des Cafés an einen Tisch setzten. Aber Mirsaad hatte ganz leise gesprochen, und die Musik war laut genug gewesen, so dass niemand seinen kurzen Monolog gehört hatte.
    »Hast du mal darüber nachgedacht, in die Staaten zu gehen?«, fragte sie. »Dort werden neue Siedler gebraucht. Mit fünf Sprachen kannst du dich ziemlich schnell als hundertprozentig geeignet qualifizieren. Deine Karrierechancen sind vielleicht nicht die besten, aber immerhin. Dieser Ziegenhirte wäre zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich gefragter als ein Journalist.«
    »Dieser alte Bauer wäre Amerikas Untergang«, sagte Mirsaad ernst, bevor er sich wieder entspannte. »Wir haben natürlich darüber nachgedacht. Ich habe sogar mit Laryssa darüber diskutiert. Sie ist eine ausgebildete Krankenschwester. Sie würde bestimmt schnell Arbeit finden. Aber in New York wird heftig gekämpft. Und dann ist da noch dieser Faschist Blackstone. Wahrscheinlich würden wir nur vom Regen in die Traufe kommen.«
    »Das könnte natürlich sein«, gab sie zu.
    Die Tür auf der anderen Straßenseite ging wieder auf, und eine Frau trat heraus. Sie fiel sofort auf, und zwar aus
zwei Gründen. Sie war dunkelhäutig, trug aber moderne Kleider und war allein. Kein Mann lief vor ihr her.
    Sie trat auf die Straße und strahlte etwas Herrisches aus, als würde sie nach jemandem suchen, der sie herausfordert.
    Caitlin bezweifelte, dass jemand das wagen würde.
    Nur ein Verrückter würde Fabia Shah provozieren.
    Sie war die Mutter von al-Banna.

37
    Kansas City, Missouri
    Wenn die Eröffnung des Hawthorne Kraftwerks der Höhepunkt von Kippers Tag gewesen war, dann war der Besuch im renovierten North Kansas City Hospital zweifellos der absolute Tiefpunkt. Ein unvorhergesehener Schauer am Nachmittag prasselte gegen die Fensterscheiben, als Kipper die Korridore entlanglief, die zu seinen Ehren auf Hochglanz poliert worden waren. Das Personal, das zu einem großen Teil aus Einwanderern und Flüchtlingen bestand, senkte die Köpfe und schaute ihm ehrfurchtsvoll zu, wie er Richtung Intensivstation ging, mit Culver im Schlepptau und einigen Colonels und Generälen neben sich. Weiß gekleidete Ärzte beeilten sich, mit ihnen Schritt zu halten.
    Vor der Station, die er nun besuchen wollte, wurde er von einem Arzt erwartet. Der Mittdreißiger in dem grünen Chirurgenkittel sah müde und erschöpft aus.
    »Willkommen im North Kansas City Hospital, Mr. President«, sagte der Arzt und

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