Das verlorene Land
aufgebaut.
Caitlin schaute sich genauer um. Ein ehemaliges Restaurant war in ein Bekleidungsgeschäft umgewandelt worden. Regale mit Jeans und Windjacken standen nun da, wo vorher die Gäste an Tischen gesessen hatten. Daneben war aus einem Spirituosengeschäft ein Laden für Elektronik-Waren geworden, und in einer einstigen Videothek zwei Häuser weiter befand sich ein Kaffeehaus für Raucher, wo den Gästen die verschiedensten Tabaksorten und vielleicht sogar andere Arten von Rauchwaren angeboten wurden. Männer saßen im blassen Licht der Morgensonne vor kleinen Mokkatassen und zogen an reich verzierten Wasserpfeifen. Auch viele Frauen waren auf den Straßen unterwegs, aber die meisten waren von Kopf bis Fuß verschleiert, einige trugen Burkas, andere lange formlose hellgrüne oder graue Mäntel und dazu Schleier oder Kopftücher. Sie gingen alle in Gruppen, auf die jeweils ein männlicher Begleiter aufpasste. Hier und da bemerkte sie jüngere Frauen, die nur ein Kopftuch trugen, so wie sie. Aber auch die wurden von einem Mann begleitet, und ihre Kleidung war sehr zurückhaltend und ließ ihre Körperformen nicht erkennen.
»Was meinst du, Sadie?«, fragte sie. »Hätten wir wohl Glück, wenn wir mal eben rausspringen und nachsehen, ob es auf diesem bunten persischen Basar ein paar interessante
Artikel aus den guten alten Vereinigten Staaten gibt?«
Mirsaad lächelte indifferent.
»Die würden wir sicherlich finden, Caitlin. Ich kaufe oft hier ein. Normalerweise ohne Laryssa, denn ihr gefällt es hier nicht, aber die Sachen sind ziemlich billig, und wir haben ja kaum Geld.«
»Ich verurteile dich nicht. Du hast Kinder, um die du dich kümmern musst. Ich schätze, der hiesige Aldi sieht mehr aus wie eine Konsum-Halle aus der alten DDR, oder? Ich frage mich nur, wie viel von dem, was hier verkauft wird, aus Plünderungen in den USA stammt, was meinst du?«
»Wir können ja mal nachschauen«, sagte er, und zu ihrer großen Überraschung hielt er am Straßenrand an. Trotz der deutlich sichtbaren wirtschaftlichen Vitalität dieser abgeschotteten Kommune gab es nur wenige Autos, und sie hatten kein Problem, einen Parkplatz zu finden. Bevor sie ausstiegen, wandte der Jordanier sich ihr zu und gab ihr schnell einige Instruktionen.
»Es ist besser, wenn du mir das Reden überlässt. Jedenfalls hier in dieser Gegend. Dein Akzent …« Er zuckte hilflos mit den Schultern.
»Mach dir keine Sorgen. Du bist der Mann. Und ich glaube, so muss das hier eben gehandhabt werden.«
»Genau so«, sagte er. »Also dann, gehen wir.«
Sie stiegen aus, und sofort erregte sie Aufmerksamkeit wegen ihrer hellen Hautfarbe und einigen blonden Strähnen, die unter ihrem Kopftuch hervorschauten. Aber Caitlin hatte viele Jahre im Nahen Osten und in der muslimischen Diaspora in Europa zu tun gehabt und wusste, wie sie reagieren musste. Sie senkte den Kopf und ordnete sich auf dem Gehweg hinter Mirsaad ein und folgte ihm zu einem der Kleiderstände. Sofort kam ein älterer türkischer Händler auf ihn zu und unterbreitete ihm sein günstigstes
»Morgen-Angebot« und lobte die Qualität seiner Waren. Wenn man ihn auf die ungläubige Frau ansprach, die bei ihm war, lachte Mirsaad nur und erklärte, sie sei ein Flüchtling und arbeite im Rahmen eines staatlichen Beschäftigungsprogramms für seinen Radiosender, und leider hätte sie kein Geld. An diesem Punkt grinste der alte Türke breit, zeigte sein lückenhaftes Gebiss und verlor sofort das Interesse an ihr.
Während die beiden Männer auf Arabisch palaverten, blieb Caitlin dicht bei ihnen, bemühte sich aber gleichzeitig, so viele Details wie möglich aufzuschnappen. Auf den Regalen lagen jede Menge Kleider bekannter US-Designer-Marken. Jeans von DKNY, Calvin Klein und American Apparel, Sweatshirts und Hemden von Hilfiger und Kors. Auch einige europäische Marken waren vertreten, aber nicht viele, und sie sahen aus wie billige Kopien, jedenfalls wiesen die schiefen Nähte und die Art, wie der Stoff sich an manchen Stellen unschön wölbte, darauf hin. Während Mirsaad und der Ladenbesitzer sich miteinander unterhielten, nahm sie sich die Zeit, einige der Artikel näher zu betrachten. An einem Paar 501-Jeans entdeckte sie ein Sicherheitsetikett der US Navy. Und an drei grellfarbenen Nautica-Windjacken hingen immer noch die Preisschilder von Macy’s in der Fulton Street von Brooklyn.
Sie bemühte sich gelangweilt, aber unterwürfig auszusehen und ließ ihre Augen über die elektrischen
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