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Das verlorene Land

Das verlorene Land

Titel: Das verlorene Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Birmingham
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habe nichts dagegen«, sagte Caitlin. »Wir müssen nicht unbedingt Aufmerksamkeit erregen.«
    Sie hatte bereits alles, was sie brauchte, aus ihrem Wagen geholt und sich vor einer Stunde im Hotel am Flughafen Tempelhof umgezogen. Nun trug sie einen langen schwarzen Ledermantel, den sie locker zusammengebunden
hatte, um die beiden russischen Maschinenpistolen, die sie an den Oberschenkeln trug, zu verbergen. Die Pistole trug sie an der Hüfte, außerdem Ersatzmagazine für alle drei Waffen über den ganzen Mantel verteilt, wodurch das Kleidungsstück noch schwerer wurde. Außerdem hatte sie ein Klappmesser an ihr rechtes Handgelenk geschnallt und eine Packung Zigaretten in ihre linke Brusttasche gesteckt, die zur Hälfte aus Plastiksprengstoff bestand. Eine weitere Ladung befand sich in ihrem Plastikfeuerzeug in der rechten Brusttasche.
    Sie stiegen in Mirsaads Auto, einen verrosteten, heruntergekommenen alten Lada mit dem Logo eines lokalen Radiosenders, das ziemlich amateurhaft auf beide Autotüren gemalt worden war. Im Wagen lag jede Menge Kinderspielzeug herum, und es roch nach gekochtem Kohl. Er lächelte entschuldigend.
    »Ich fürchte, das ist nicht gerade ein Luxusgefährt, Caitlin, aber der Sender trägt die Kosten, und ich darf es mit nach Hause nehmen.«
    Sie machte eine abwehrende Handbewegung.
    »Nach dem zu urteilen, was ich gesehen habe, seit ich gestern Abend angekommen bin, kannst du froh sein, dass du es hast, Sadie. Das Wichtigste ist jetzt, dass ich keine Aufmerksamkeit errege.« Sie hielt inne. »Geht das in Ordnung mit dir?«, fragte sie, als sie auf die Straße einbogen. »Dass ich mitkomme als deine Assistentin?«
    Die letzten beiden Worte betonte sie extra.
    »Das ist schon okay«, sagte Mirsaad. »Ich sollte sowieso eine Serie von Reportagen über Neukölln machen. Es ist eines der Viertel, in dem die Scharia als Rechtssystem in Zivilprozessen angewendet werden soll, weißt du. Jedenfalls dann, wenn es durchs Parlament kommt. Die Wirklichkeit am Boden, wie ihr Amerikaner es ausdrückt, ist, dass das deutsche Recht innerhalb dieses Viertels sowieso keine Geltung mehr hat.«

    Sie fuhren auf die Emser Straße. Es war ein wolkiger, grauer Tag.
    »Und was ist deine Meinung dazu, Sadie?«
    »Es ist hochgradiger Schwachsinn«, sagte er, ohne zu zögern. »Die Menschen verstehen nicht, was die Grundlage von Gesetzen ist. Sie denken, es sei ein Ausdruck von guten Manieren, aber das stimmt nicht. Es ist kodifizierte Gewalt, eine Machtbalance, um es in den Worten der Verfassung auszudrücken. Diese Macht einem Gegner zu überlassen, wie es der deutsche Staat tut, ist gleichbedeutend mit dem Abtreten von echter Gewalt in der nahen Zukunft. Darauf läuft es unweigerlich hinaus.«
    »Du bist also dagegen?« Sie lächelte ihn an.
    »Ich habe Töchter«, sagte er ernst – und das genügte ihm als Erklärung. Er beugte sich über das Lenkrad, um sich wieder ganz auf die Fahrt zu konzentrieren. Caitlin kannte diesen Typ von Mann. Bret war auch so. Sie fragte sich, was er wohl jetzt machte, und hätte nur zu gern angerufen, um zu fragen, wie es ihm und dem Baby ging.
    Neukölln war der nächste Stadtteil und lag nur fünf Straßenzüge entfernt. Aber auf dem Weg dorthin hatte Caitlin das Gefühl, von der modernen Welt in eine andere, archaische und repressive zu wechseln. Mirsaad lenkte den Wagen durch einen ehemaligen Grüngürtel, der nun graues, schmutziges Ödland geworden war, bevor sie das Viertel erreichten. Auf diesem verwüsteten Streifen sah man mysteriöse Gruben in der Erde, aufgeschüttete Kieshaufen und blattlose, tote Bäume, die zusammen eine Art Grenze markierten.
    In Mirsaads Viertel hatte sie sich in einer deprimierenden Umgebung befunden, die von leeren Läden, herumlungernden arbeitslosen Jugendlichen und wenigen hellen Flecken wie Ahmets Kaffeehaus gekennzeichnet war. Dort hatte sie die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in einer
Arme-Leute-Gegend studieren können und ein latentes Gefühl von Feindseligkeit gespürt, wenn sie dort entlanggelaufen war, weil sie in ihren luxuriösen Kleidern und mit dem BMW fehl am Platz wirkte.
    Als sie hier in die Straßen der Schariastadt kamen, änderte sich das alles. Auf den Gehsteigen gingen viel mehr Menschen, die meisten Läden an der Straße waren geöffnet, wenn sie auch nicht mehr so waren wie früher. Ein regelrechter Basar war hier entstanden. Die Einwohner hatten die alten Geschäfte übernommen und kleine orientalische Marktstände

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