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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Wasserfall aus Schweiß und Tränen und beeilte sich nervös, in sein eigenes Zuhause, in Wohnung 10, zurückzugelangen.
    Frustriert über Buggs doch recht selektive Erinnerungen, beschloß ich an jenem ersten Abend, den die neue Bewohnerin von Wohnung 18 bei uns verbrachte, jemand anderen im Observatorium aufzusuchen und so womöglich mehr zu erfahren. Wir statteten Miss Higg aus Wohnung 16 einen Besuch ab. Allerdings nicht sofort, war es doch genau die Uhrzeit, zu der Miss Higg vor ihrem Fernseher saß und eine ihrer Lieblingssendungen ansah, weswegen uns bestimmt kein Einlaß gewährt würde. Wir warteten also höflich, bis die Sendung vorbei war. Wir aßen. Wie kam es, dachte ich laut und bislang hatte ich noch nie darüber nachgedacht, wie kam es, daß Peter Bugg ohne Probleme Zeit mit Miss Higg verbringen konnte? Denn immerhin war auch sie eine Frau. Er zuckte zusammen, seufzte und erklärte dann:
    Ich habe niemals in Erwägung gezogen, daß Claire Higg auch nur entfernt etwas Weibliches besitzen könnte.
Claire Higg
    Claire Higg existierte selten in der Gegenwart, selten in der Vergangenheit und ganz sicher nie in der Zukunft. Sie hatte sich selbst ein alternatives Zeitgefüge namens Fiktion erschaffen. Miss Higg lebte für die Fiktion und sie hatte bereits so lange und so vollkommen für die Fiktion gelebt, dass für sie Fiktion zur Wirklichkeit geworden war. Trotz der Farben, die sich aus ihrem Fernseher ergossen, umgab Miss Higg mit ihrer bleichen, trockenen, jugendlosen Haut und ihren dunklen, staubigen Kleidern eine schwarzweiße Aura, etwas Mottenhaftes. Sie war eine Frau ohne Feuchtigkeit. Und Claire Higg hatte einen Weg gefunden, völlig zu vergessen, wie Claire Higg aussah. In Wohnung 16, wo sie lebte, gab es keine Spiegel. Ihr Apartment bestand aus sechs Zimmern, von denen sie jedoch nur vier benutzte. Während ihrer Abwesenheit wurden in den übrigen die Staubteppiche dicker und immer dicker. Sollte sie noch einmal die anderen Räume betreten, würde sie diese nicht wiedererkennen, wäre überzeugt, woanders zu sein, sich verlaufen zu haben. Die anderen Zimmer waren von der restlichen Wohnung nicht wirklich abgetrennt, eigentlich überhaupt nicht, aber es gab einen gewissen Punkt in ihrer Wohnung, den sie schon eine ganze Weile nicht mehr überschritten hatte. Nichts hielt sie davon ab, auf die andere Seite hinüberzugehen, sie tat es nur einfach nicht. Denn es gab dort nichts für sie. Alles, was sie brauchte, hatte sie in ihren vier Zimmern: Küche, Wohnzimmer, Bad und Schlafzimmer. Die Mehrzahl ihrer Tage verbrachte sie in der warmen Behaglichkeit ihres Lieblingssessels, von wo aus sie sich der Freundlichkeit stellte, die ihr Fernseher verströmte. Dort verlebte sie glückliche Tage. Sie verbrachte sie mit ihren Freunden, mit Figuren aus Seifenopern. Sie liebte sie alle, sogar die Schurken. Im Inneren dieser magischen Fernsehkiste befanden sich so wunderbare Farben, so wunderschöne Menschen, so herrliche Leben. Außerhalb gab es nur die kleine Miss Higg. Aber das spielte für sie keine Rolle. Da der größte Teil des Tages in Gesellschaft wunderbarer Figuren verbracht wurde, konnte der Rest des Tages damit verbracht werden, über diese wunderbaren Figuren nachzudenken. Ihr Gehirn spielte die Geschehnisse des Tages noch einmal nach und dann gickelte sie leise, aberaberte, weinte und seufzte noch einmal mit ihren Lieben. Es war ein erfülltes Leben. Jeden Tag hatte sie ungeheuer viel zu tun, in jeden einzelnen Tag mußte sie Beerdigungen, Hochzeiten, Geburten, Skandale, Affären, Poolpartys, wichtige Besprechungen in gewaltigen Büros, Spaziergänge am Strand, Ausritte zu Pferde, Wellenreiten, Wutanfälle, Tränen, Küsse, gelegentliche Vorspiele zum Sex und noch vieles andere packen. Wenn sie schlafen ging, dann tat sie dies mit einem Lächeln, um sich bereits wieder auf einen weiteren ereignisreichen Tag einzustimmen.
    Miss Higgs magnolienfarben gestrichene Wände zierten einst, bevor es ihre Wände wurden, als man aus ihren Fenstern noch das Grünland sehen konnte, auf dem lässig Rinder weideten, eine Reihe von Drucken mit Jagdszenen. Heute waren sie überzogen mit sorgfältig aus Illustrierten ausgeschnittenen Photos, festgehalten von Bildernägeln, Reißzwecken und Nähnadeln. Ein Mann tauchte besonders häufig auf: Schnurrbart, gebräuntes Fleisch und breites Lächeln mit viel Zahn. Dieser Mann war ebenfalls auf ihrem Kaminsims zu finden, eingezwängt zwischen Glas und Holz in einem

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