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Das verlorene Observatorium

Das verlorene Observatorium

Titel: Das verlorene Observatorium Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Schutthaufen sehen, wo als Probelauf bereits eine der tragenden Säulen gesprengt worden war. Wir hatten den Lärm ihres Einsturzes tags zuvor vage gehört, oben in unserem Gefängnis, oben in Wohnung 6. Anna! Anna! wieder ertönten die klagenden Rufe. Diese Korridore hatten früher Butler gesehen, die hier unten Wein holten, und Waschmägde, die hierher kamen, um den Waschkessel zu heizen, hatten Küchenjungen gesehen, die Feuerholz holten. Und mir war, als würde ich sie jetzt an mir vorbeihasten sehen, als würden unsere Schuhe im Takt unterschiedlicher Jahre auf den gleichen kalten Ziegelboden schlagen, der Geruch von Gefahr musste die Dienstboten ins Leben zurückgerufen haben, oder die Bohrungen in den Säulen hatten Löcher in der Zeit geöffnet und ließen nun die Vergangenheit herausströmen. Mir war, als wären in diesem Augenblick oben im Salon die Diener bemüht, die Lampen anzumachen, die Haushälter mussten nach Staub suchen, Kammerzofen ließen das Badewasser einlaufen und hofften, das Wasser möge schneller fließen. Mir war, als würden meine Ahnen von Zimmer zu Zimmer laufen oder sich kerzengerade in ihren Betten aufrichten, um nach den Dienern zu läuten, sie versuchten zu verstehen, warum sie sich plötzlich so unsicher fühlten. Und unter ihnen, gefangen im Aufruhr des Augenblicks, wären auch mit graublauen Ringen unter den Augen und ängstlich besorgten Blicken die blassen Gesichter der Schatten früherer Bewohner des Observatoriums. Der Klavierspieler musste seine Etüden unterbrechen; die sterbende Mutter kam mit ihren beiden erwachsenen Töchtern an die Tür, alle demselben erschreckten Instinkt folgend; der Junggeselle wurde bei seinem nachmittäglichen Liebesspiel gestört, nicht von einem bestimmten Geräusch, sondern einer Vorahnung; die junge Mutter, die das Kreischen des Autos direkt vor der Mauer des Observatoriums hört, als es ihre kleine Tochter erfasst; Alec Magnitt, der den Fahrstuhl betritt. Sie alle waren mit einem Mal wach und fragten sich, was hat uns gerufen, was hat uns nur gerufen? Was wird passieren, was wird wohl passieren?
    Ich erreichte die Stelle, von der die Rufe ausgingen. Es war der Drei-Zimmer-Käfig unverfälschter Ordentlichkeit. Der Pförtner war noch in seiner Wohnung, seine Pförtneruniform, an der immer noch ein Messingknopf fehlte, war schmutzig. Er saß auf seinem mit einem Vorhängeschloss gesicherten Schrankkoffer neben dem Bett, jener Schrankkoffer, der mutmaßlich seinen ganzen persönlichen Besitz sowie seine Erinnerungen enthielt. Anna Tap lag in seinem Bett. Sie war ganz ruhig, schien sich gar nicht bewusst zu sein, dass ich gerade den Raum betreten hatte. Sie lag unter der Bettdecke, nur Hals und Kopf waren zu sehen. Der Pförtner bürstete ihr mit Claire Higgs Haarbürste das Haar und rief immer nur ihren Namen: Anna. Sie sah krank aus, ihr Gesicht war geschrumpft, die Haut matt und leblos. Warum bewegte sie sich nicht?
Anna, steh auf!
    Der Pförtner griff nach Annas Haaren, umklammerte sie mit der Faust und zog daran. Er stöhnte vor Anstrengung und hievte Anna aus dem Bett. Ihr Kopf löste sich, er hielt ihn mir vor die Nase. Was hatte er getan? Anna! schrie ich und während ich schrie, begann der Pförtner vor Vergnügen zu quietschen. Erst dann sah ich, dass Anna gar keine Augen hatte, dass sich gewaltige Narben quer über ihr Gesicht zogen und dass ihr
    Körper direkt unterhalb der Schultern sauber abgetrennt war. Der Pförtner hielt die Wachsbüste von Anna Tap hoch. Er zischte und raunte leise:
    Wer hat dich herausgelassen, Francis Orme?
    Sie jagen das Haus in die Luft.
    Du hättest nicht herkommen dürfen,
    Wir müssen gehen.
    Aber wir werden eine Ausnahme machen, Anna, nicht wahr?
    Es ist keine Zeit mehr.
    Anna möchte, dass du dich setzt. Komm rein und setz dich.
    Sie müssen gehen, wir haben keine Zeit mehr.
    Für Freunde muss immer Zeit sein. Komm rein, Francis, komm nur. Anna kennst du ja bereits, oder?
    Sie können nicht bleiben.
    Ich habe einen Knopf verlegt. Hast du ihn gesehen?
    Sie müssen hier raus.
    Soll ich die Tür zumachen, damit wir nicht gestört werden?
    Ich gehe. Ich hab es Ihnen schon einmal gesagt, ich gehe jetzt. Der Pförtner zischte.
    Komm rein! Mach die Tür zu. Verschwinden Sie von hier!
    Ich rannte zum Tunnel zurück. Es dauerte nicht lange, und meine Schritte erhielten Gesellschaft von anderen Schritten, hastigen Schritten, die in meinen Ohren widerhallten. Und eine Stimme, die rief: Wo ist mein Knopf? Hat

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