Das verlorene Regiment 02 - Jenseits der Zeit
zersplitterte Funken aus ersterbenden Flammen zu verwandeln. Mit schrillem Schrei durchbrach er die Oberfläche, schlug um sich, kämpfte darum, oben zu bleiben. Strampelnd wehrte er sich gegen die Strömung. Der Grund – er spürte wieder Boden unter den Füßen! Er plantschte durchs Dunkle, strengte sich an, stürzte, rappelte sich wieder auf- und wie durch Schlamm kämpfte er sich, die Gedanken taub vor Entsetzen, auf das flammenumloderte Ufer zu.
Hände schlossen sich um seine Beine.
Gott, gib, dass es aufhört! Der Schrei wollte aus ihm herausplatzen, blieb aber unhörbar in der Kehle stecken, als wären Worte nutzlos und würden ohnehin nicht vernommen.
Die Hände zerrten an ihm, tasteten sich zur Taille hoch, zogen ihn zurück. Erneut hatten sie ihn.
Als würden seine Augen von einem Willen bewegt, den er nicht zu steuern vermochte, blickten sie nach unten. Steif drehte er sich um und starrte wieder auf die reißende Flut hinaus.
Es war ein Fluss aus Tugarenleichen, der in die Dunkelheit strömte. Aufgedunsene Leichen wirbelten vorbei, bleich und geisterhaft im Feuerschein. Körper wanden sich in Agonie, griffen mit krallenbewehrten Händen nach ihm. Menschenleichen mit aufgeblähten Bäuchen, mit den geschwollenen Gesichtern der Ertrunkenen wälzten sich vorbei. Sie alle, alle, die er je umgebracht hatte, all die Zehntausende, trudelten an ihm vorbei, starrten ihn aus blicklosen Augen an. Die Hände griffen höher, zogen ihn herab, zurück in ihre stinkende Umarmung.
Die schon angegraute Leiche eines Tugaren stieg aus dem Malstrom auf, umklammerte ihn, zog ihn zurück in die Fluten.
Die geschwärzte Flut saugte ihn zurück in die Dunkelheit; Hände packten ihn und zogen ihn in durchweichtes Fleisch hinein, das nach Tod stank.
»Gott, Gott, vergib mir!«
»General, um Kesus’ willen, General, wachen Sie auf!«
Vincent spürte einen Schlag im Gesicht. Die Welt kehrte zurück.
Er rang um Selbstbeherrschung, aber diesmal gelang es ihm einfach nicht. Ein bebendes Schluchzen entfuhr ihm.
»Mein Gott, ich bin in der Hölle!«
Sanfte Hände umfassten seine Schultern. Er spürte, wie ein langer Bart an seiner Wange kitzelte; kurz blitzten Erinnerungen an seinen Vater auf, wie dieser ihn hielt, wenn er des Nachts Angst bekommen hatte. Stets war dann der Vater an seiner Seite, hob ihn auf, hielt ihn fest und flüsterte ihm gut zu, bis die Furcht verschwand.
»Ich bin in der Hölle!«, stieß er hervor, weiter bemüht, sich wieder in den Griff zu bekommen.
»Ist schon in Ordnung, mein Junge. Sie haben nichts falsch gemacht. Es war nur wieder der Traum.«
Bebend bemühte sich Vincent, sich zu beruhigen. Er war schließlich derjenige, bei dem die anderen Kraft suchten. Immer dasselbe heutzutage. Gott, durfte er nie wieder der verängstigte Junge sein? Im Herzen fühlte er sich ständig so. Für all die Männer war er jedoch der General oder der Botschafter und vor allem der Held, derjenige, der Zehntausende niedergemetzelt und sie alle gerettet hatte.
»Ist schon in Ordnung, mein Junge, ich verstehe das«, flüsterte der Alte.
Wie sehr Vincent sich wünschte, einfach zusammenbrechen zu können, zu schluchzen, all sein inneres Grauen diesem Alten beichten zu können, der ihn hielt. Nur einmal wollte er loslassen und sich zurückziehen dürfen! In seltenen Nächten, die umso kostbarer für ihn waren, hatte er diesen einsamen anderen Traum. Er handelte von einer Zeit vor Jahren, lange vor all diesen jüngeren Ereignissen. Er war nach wie vor Schüler der Oak Grove Quäkerschule in Vassalboro. Der Duft von Apfelblüten hing in der Luft, und er blickte träge zum Fenster hinaus auf die wundervolle Landschaft des Kennebec-Tals. Eine bittersüße Verträumtheit lag über allem, eine Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit der Unschuld, die so lange zurücklag – in der er durchs hohe Sommergras lief, während der Hund freudig neben ihm hersprang. Oh Gott, hätte er doch irgendwie wieder dort sein und den Geruch des Windes wahrnehmen und den trägen Frieden spüren können! Wieder dort in einer Zeit, ehe er in den Krieg zog und seine Unschuld für immer verlor.
Der Alte wiegte ihn sanft, und Vincents Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Der Alte spürte, wie Vincent sich vom Grauen befreite, ließ los und wich zurück.
»Alles in Ordnung, Junge«, flüsterte Dimitri. »Ich verstehe das. Ich habe es schon früher mitbekommen, wusste aber, dass Sie es lieber vor mir geheim gehalten hätten. Ich bin aber
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