Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
fünfundsechzigtausend
Greifen zur Verfügung, die er gegen Tencendor einsetzen
wird. Und wenn die wiederum geworfen haben, beläuft
sich diese Schar bereits auf …«
Er schwieg, damit die beiden Gelegenheit erhielten,
sich das gesamte Ausmaß dieser Bedrohung ausmalen zu
können.
»Meine Tochter, es hätte Euren Gemahl schon fast das
Leben gekostet, die neunhundert Greifen zu vernichten,
die in der Schlacht am Azle zum Einsatz kamen. Von
dieser Anstrengung blieb er als verkrüppelter Zauberer
zurück. Axis kann nie wieder einen Zauber bewirken.
Die Vernichtung der Greifen wird von daher nun Euch
obliegen.«
»Aber wie sollte ich …«
»Wenn diese Nacht zu Ende gegangen und der Morgen erwacht ist, werden Euch die meisten Zweifel
verlassen haben. Ich habe Euch Antworten auf die
meisten Eurer Fragen versprochen, sobald wir endlich
allein wären. Und dann sollt Ihr auch erfahren, wie Ihr
Eure Macht handhaben müßt. Meine Tochter, seid Ihr
bereit, Euch Eurer Herkunft zu stellen?«
Mit neugefundener innerer Kraft antwortete sie ruhig
und fest: »Ja.«
Ihr Vater beugte sich über sie, zog die Decken zurück
und hob Aschure aus dem Bett. Besorgt stellte er fest,
wie wenig sie wog – und wie sie vor Schmerzen das
Gesicht verzog, als er seine Arme unter sie schob.
»Halt!« rief ihr Schwiegervater und sprang auf. »Was
habt Ihr mit der jungen Frau vor?«
»Jetzt reicht es mir aber endgültig!« knurrte Wolfstern, und Sternenströmer spürte, wie die gewaltige
Macht des alten Zaubererfürsten über ihn kam, ihn
umhüllte und gegen die Wand schleuderte.
Sternenströmer verlor genau in dem Moment das
Bewußtsein, als sein Schädel gegen die Steinmauer
schlug.
30 D IE
G
RUFT DES
M
ONDES
»Ganz ruhig, meine Tochter«, redete Wolfstern auf sie
ein, als er mit ihr leise aus dem Schlafsaal der Priesterinnen eilte. »Euer Leiden wird bald ein Ende haben.«
»Mir fehlt es an der Kraft für das, was Ihr mit mir
vorhabt, was immer das auch sein mag«, entgegnete
Aschure und weinte leise vor Schmerzen.
»Ihr müßt sie aber aufbringen, mein Liebes. Findet die
nötige Kraft, gleich wo. Schlingt Eure Arme fester um
meinen Hals. Ich werde Euch noch eine Weile tragen.«
Die junge Frau pfiff Sicarius zu sich, als sie an dem
Zimmer vorbeikamen, in dem er wartete. Aber Wolfstern
knurrte den Hund an, bis dieser mit eingezogenem
Schwanz zurückwich. »Nein«, erklärte er seiner Tochter,
»was ich zu sagen habe, ist nur für Eure Ohren bestimmt.
Und danach seid Ihr ganz auf Euch allein gestellt.«
Die Luft des frühen Morgens war recht kühl, es war
noch fast dunkel und Aschure zitterte an der Brust ihres
Vaters. Der schritt schneller aus.
»Wo gehen wir denn hin?«
»In die Gruft des Mondes. Seid stark für mich. Und
für Axis.«
Sie zitterte noch mehr, und Wolfstern hielt sie so
warm, wie er nur konnte. In Gedanken verwünschte er
die Zwillinge. Sie hatten alles aufgehalten und beinahe
noch ihre Mutter, seine wunderschöne Tochter, getötet.
»Haltet durch, seid stark«, befahl er ihr streng. »Wir
haben jetzt keine Zeit, uns weibliche Schwachheiten zu
leisten.«
Das empörte die junge Frau so sehr, daß ihre Arme an
seinem Hals erstarrten. »Ihr seid wie alle Männer,
Wolfstern! Verführt die Frauen, pflanzt ihnen Euren
Samen ein und laßt sie dann zurück, damit sie allein mit
ihren Schmerzen fertigwerden müssen. Verhöhnt also
nicht Dinge, von denen Ihr nichts versteht!«
Ihr Vater lächelte in sich hinein, ließ sich aber nichts
davon anmerken. Er hatte erreicht, was er erreichen
wollte. Sie näherten sich den Südklippen der Insel.
Tief unter ihnen brachen sich die Wellen am Gestade.
Aschure?
Seid Ihr es, Aschure?
Trägt sie den Ring? Ist sie es wirklich?
Wolfstern, Wolfstern, bringt Ihr sie uns?
»Ja«, flüsterte der Zauberer, »ja ich bringe sie Euch.
Habt noch ein wenig Geduld.«
Die Wogen stöhnten, und die junge Frau schrie
erschrocken über ihr Klagen, dessen Widerhall sie in
sich spürte. Sie versuchte, sich aus dem Griff ihres
Vaters zu befreien, aber er erwies sich als viel zu stark
für sie.
»Nein!« rief Aschure.
»Doch«, flüsterte er, und sie wagte mit bangem Herzen, ihm ins Gesicht zu sehen … und verstand jetzt, was
Niah damit meinte, als sie seine Augen »hungrig vor
Magie« genannt hatte.
Sie standen nun am Klippenrand, und die junge Frau
hielt sich an Wolfstern fest, weil sie mit einem Mal die
Furcht befiel, er könne sie hinunterfallen lassen. Der
Mond
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