Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
blutbeflecktes und durchgeschwitztes Nachthemd verschwunden.
Statt dessen trug sie ein ebenso hauchdünnes Gewand
wie Xanon, Flulia und Zest.
»Aber Ihr seid nur sieben«, sprach sie verwirrt und
zählte die Götter zur Sicherheit noch einmal durch.
»Dabei dienen im Tempel entsprechend der Anzahl der
Sternengötter neun Priesterinnen. Wo halten sich denn
die beiden fehlenden auf?«
Ein trauriger Ausdruck trat in Adamons Augen. »Wir
sind nicht vollständig, meine Liebe, sondern nur zu siebt.
Wir warten darauf, daß die Göttin des Mondes und der
Gott des Liedes zu uns finden. Dann werden wir neun
sein.«
Aschure legte die Stirn in Falten und versuchte sich an
das zu erinnern, was Sternenströmer und Morgenstern
Axis über die Sternengötter erzählt hatten … an jenem
Nachmittag, an dem Aschure Axis’ Unterricht im
Krallenturm besucht hatte. Neun Götter säßen am
Himmel, hatte Sternenströmer erklärt. Zu diesen gehörten
auch die Göttin des Mondes und der Gott des Liedes,
deren Namen den Menschen, Ikariern und Awaren aber
noch enthüllt werden müßten. Die junge Frau runzelte
nachdenklich ihre Augenbrauen. In ihren Gebeten riefen
die Vogelmenschen eigentlich immer nur die sieben an,
die hier vor ihr standen … aber niemals Mond oder Lied.
Die Göttin des Firmamentes streckte eine Hand aus.
»Kommt, Aschure, setzt Euch zu uns.« Sie führte die
junge Frau zu einem Kreis von niedrigen Diwanen.
»Wir haben Wolfstern gebeten, Euch zu uns zu bringen«, erklärte Adamon ihr, nachdem alle Platz genommen
hatten, »denn wir müssen unbedingt mit Euch reden.«
Aschure wagte kaum, die Sternengötter mit ihren
Fragen zu behelligen, aber als sie in ihre freundlichen
und erwartungsvollen Gesichter schaute, faßte sie sich
ein Herz: »Gehört mein Vater zu Euch?« Womöglich als
Gott des Liedes?
»Er gehört zu den Niederen«, antwortete Pors, und
seine Stimme klang so leicht wie das Element, für das er
stand. »Von den Niederen gibt es viele, aber von uns nur
neun.«
»Eure Hunde gehören auch zu den Niederen«, fügte
Zest hinzu und lachte über Aschures verwirrten Gesichtsausdruck. »Ebenso wie Orr und seine vielen
verborgenen Gefährten in der Unterwelt.«
»Und wie ich«, ertönte eine durchdringende Stimme.
Aschure hob den Kopf und sah eine große und schlanke
Frau, die nun ins Licht trat. Ihr Gesicht wirkte wie das
eines Leichnams, und das pechschwarze Haar fiel ihr bis
zu den Hüften. Aschure konnte nicht entscheiden, ob es
sich bei ihr um die schönste oder um die häßlichste Frau
handelte, die sie je erblickt hatte.
»Die Torwächterin«, stellte die neue sich vor und ließ
sich hinter den Ruhebetten auf einem Schemel nieder.
Dann faltete sie umständlich die Hände, so als müsse sie
ihre Finger zum Stillhalten zwingen.
»Habt Ihr denn nichts mehr zu tun, Torwächterin?«
fragte der oberste Himmelsgott.
»Wegen des dunklen Mondes hatten wir heute eine
ruhige Nacht«, entgegnete sie, »in der niemand starb
noch sterben wird. Was hier vorgeht, ist viel wichtiger
als mein Platz vor dem Totenreich, und ich möchte gern
Zeugin sein.«
»Wie Ihr wünscht.« Adamon wandte sich wieder an
die junge Frau. »Aschure, Folgenreiches ereignet sich im
ganzen Land. Der Kampf, der hier ausgetragen wird, geht
weit tiefer, als Ihr wahrscheinlich glaubt. Dabei steht
längst nicht der Zwist zwischen Axis und seinem Bruder
Gorgrael im Vordergrund, nein, vielmehr streiten die
Götter selbst gegeneinander. Artor ist auf diese Welt
gekommen …«
Aschure erschauerte und erinnerte sich an all die
schrecklichen Taten, die in Seinem Namen begangen
worden waren.
»… und strebt danach, uns wirksam daran zu hindern,
es Ihm gleichzutun.«
»Ich dachte, alle Götter lebten in ihren Himmelskönigreichen …« begann die junge Frau und brach mitten im
Satz ab. Eigentlich hatte sie nie so richtig über die
Wohnstatt der Götter nachgedacht.
»Wir sieben sitzen seit über tausend Jahren gefangen,
meine Liebe, eingesperrt in Dunkelheit und Kälte … und
sind nicht in der Lage, die Gebete der Ikarier zu erhören.« Adamon schüttelte den Kopf. »Auch damals waren
wir nicht vollständig, blieb der Kreis ungeschlossen.
Deshalb konnten wir uns nicht so recht zur Wehr setzen.
Aber als die Vogelmenschen wieder in den Süden
gezogen kamen, die uralten heiligen Stätten wiederentdeckten und das Land aus Artors eisernem Griff befreiten, lösten sich die Gitterstäbe unseres Gefängnisses.
Und
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