Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
selbst
darauf gekommen sein, daß ich Euer Vater bin, aber was
den Rest angeht …« Er winkte verdrossen ab.
Aschure hielt seinem Blick stand. Sie hatte ursprünglich nicht beabsichtigt, ihn anzuklagen, aber die Erschöpfung und all der aufgestaute Kummer hatten sie übermannt und ihr keine andere Wahl gelassen. Immerhin
stand der Vogelmensch hier vor ihr, der die Ursache für
all ihre Nöte war. Glaubte er denn ernsthaft, sie fiele ihm
bei der Wiederbegegnung in die Arme, und weinte vor
Freude, weil sie endlich das Geheimnis um ihren wahren
Vater aufgedeckt hatte?
»Dann erklärt mir«, erwiderte sie, »warum Niah und
ich uns alleine durchschlagen mußten. Niah starb eines
entsetzlichen Todes, Wolfstern – aber vielleicht berührt
Euch das ja gar nicht –, und ich durchlitt viele Jahre der
Verlorenheit, der Einsamkeit und der Verzweiflung.
Nennt mir einen einzigen Grund, weshalb ich Euch nicht
anklagen sollte.«
Sein Blick wurde sanfter. »Von vielen Dingen kann
ich jetzt noch nicht sprechen, Aschure, und Niahs Tod
und Euer Leben in Smyrdon gehören dazu.«
Sie wandte sich von ihm ab, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen schossen.
»Aschure.« Sie spürte, daß er sich an ihrer Seite niederließ. »Ihr seid meine Tochter, und ich glaube, Ihr
wißt, daß ich Euch liebe.« Der Ikarier ergriff ihre Hand.
»Ich habe keine von Euch beiden willentlich verstoßen
… Oh! Beim Licht der Sterne, Tochter! Was tragt Ihr
denn da?«
Seine Stimme klang gequält, und Aschure hob den
Kopf. Wolfstern starrte auf den Ring an ihrem Finger und
zitterte so heftig, daß Aschures ganzer Arm mitbebte.
»Vater?«
»Wie seid Ihr daran gekommen?« flüsterte er, und sein
Gesicht verlor alle Farbe. Seine großen violetten Augen
blickten ernst in die ihren.
»Das ist der Ring der ersten Zauberin, jedenfalls
erzählte man mir das. Wolfstern? Warum zittert Ihr denn
so sehr?«
»Der Ring der Zauberin …«, wiederholte er mit sehr
leiser Stimme. »Ich glaubte, ihn niemals wieder zu sehen
zu bekommen. Aschure, woher habt Ihr den Reif?«
Sein Schmerz wirkte so ansteckend, daß Aschure ihre
plötzlich trockenen Lippen befeuchten mußte, bevor sie
antworten konnte.
»Axis gab ihn mir. Er erhielt ihn von Orr, dem Fährmann der Charoniten.« Während der vergangenen Tage
hatte der Krieger ihr viel über das erzählt, was ihm auf
den unterirdischen Wasserwegen zugestoßen war. »Und
der Charonite erklärte ihm, daß …«
»Daß ich ihm den Ring gab.«
»Ja.«
Der alte Zauberer holte tief Luft und rang um Fassung.
Seinerzeit hatte ihn ein mächtiges, wenn auch kaum
verständliches Bedürfnis angetrieben, zusammen mit
Niah Aschure zu zeugen, aber bis zu diesem Augenblick
hatte er die wahre Natur dessen, was er da in die Welt
gesetzt hatte, nicht erkannt. Zögernd berührte Wolfstern
den Ring.
»Dieser Reif steht für eine große und unvorstellbare
Macht.« Widerwillig ließ der Ikarier die Hand seiner
Tochter los. Er blickte auf und versuchte sich an einem
Lächeln, was ihm jedoch gründlich mißlang. »Als ich ihn
Orr übergab, rechnete ich nicht damit, ihn jemals wieder
zu Gesicht zu bekommen. Daß ich ihn jetzt am Finger
meiner Tochter wiedersehe, übersteigt beinahe meine
Vorstellungskraft.«
»Muß ich mich vor ihm fürchten, Wolfstern?«
Er hob die Hand und berührte fragenden Blickes
behutsam ihre Wange. »Nein. Nein. Der Ring hat Euch
auserwählt, er ist zu Euch heimgekehrt.« Bei den
Sternen! dachte er. Der Kreis hat sich in meiner Tochter
geschlossen! »Dabei handelt es sich um eine unvorstellbare Ehre. Glaubt mir, so etwas ist noch nie jemandem
widerfahren. Aber fürchten müßt Ihr Euch nicht vor
ihm.« Seine Lippen verzogen sich vor Verwunderung.
»Aber wie die Dinge jetzt stehen, muß ich wohl eher
Euch fürchten.«
Aschure spürte, daß sie Wolfsterns überwältigender
Anziehungskraft zu erliegen drohte, während er ihre
Wangen streichelte und sie anlächelte. Der jungen Frau
war bewußt, daß sie eigentlich wütend auf ihn sein und
ihn dafür hassen müßte, sie und Niah ihrem Schicksal
überlassen zu haben. Aber ihr Zorn verflüchtigte sich
unter der Berührung seiner Finger. Und einmal mehr
vermochte sie nachzuvollziehen, weshalb ihre Mutter
sich so sehr zu ihm hingezogen gefühlt hatte.
Aber auch wenn ihr Ärger nachließ, so brannten doch
Neugier und ein dringendes Verlangen nach Antworten
heftig in ihrem Inneren. »Wer war die erste Zauberin,
Vater, und welche Macht
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