Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
Versteht
Ihr genug von der geheimnisvollen Magie dieses uralten
Bauwerks?«
Der Alaunt antwortete mit einem kurzen, scharfen
Bellen, und Aschure lächelte. »Gut. Nun, Sicarius, sollen
wir versuchen, Euren früheren Herrn zu finden?«
Die junge Frau legte eine Hand fest auf das Treppengeländer, mit der anderen raffte sie den Rock ihres
lavendelfarbenen Gewandes. Sie beschwor Wolfsterns
Bild herauf, sein schönes, kraftvolles Gesicht, die
kupferfarbenen Locken und die goldenen Schwingen.
»Bringt mich zu Wolfstern Sonnenflieger«, sagte sie
und begann mit dem Aufstieg.
Kraft seiner Macht und seiner Erfahrung fühlte Wolfstern, wie sich Aschure durch das Labyrinth vom
Narrenturm bewegte, und hörte, wie sie seinen Namen
rief. Er lächelte überrascht, aber auch vor tiefem Stolz
darauf, wie gut sie schon mit der Macht des Narrenturms
umzugehen verstand. Der Zauberer wußte jedoch, daß es
einer Katastrophe gleichkäme, wenn sie ihn an seinem
derzeitigen Aufenthaltsort aufsuchte. Deshalb beeilte er
sich, seine Tochter zu treffen, bevor sie sich aus dem
Narrenturm hinausbeförderte.
Aschure fand den Aufstieg mühsam, und als ihr Atem
immer kürzer wurde, fragte sie sich, ob sie Wolfsterns
Worte auch wirklich richtig verstanden hatte. Seinerzeit
hatte ihr Aufstieg zum Dach ganz gewiß nicht so lange
gedauert.
Sicarius erklomm die Treppen ohne Mühe, und seine
Klauen verursachten auf den hölzernen Stufen kein
hörbares Geräusch.
»Bei den Sternen, Sicarius«, keuchte Aschure. Sie
blieb stehen und ließ den Kopf auf das Geländer sinken.
»Ich denke, daß nicht einmal Wolfstern all dieser Mühe
wert ist.«
»Dann bedaure ich, der Grund für soviel Mühe zu
sein«, erklang eine volltönende Stimme über ihr, und die
junge Frau lief so unvermittelt los, daß sie gefallen wäre,
hätte der Zauberer nicht die Hand nach ihr ausgestreckt,
um sie zu stützen.
»Kommt«, meinte er lächelnd. »Gleich dort oben
befindet sich eine komfortable Kammer. Noch zwei oder
drei Schritte, und wir sind da.«
Aschure blinzelte und schaute an Wolfstern vorbei.
Sie hätte schwören können, daß sich dort eben noch, als
sie den Kopf an das Geländer lehnte, nur die Treppe
befunden hatte, die sich spiralförmig in die Unendlichkeit
emporwand. Aber jetzt endete die Stiege auf einem
Treppenabsatz, nur ein paar Stufen entfernt. Dahinter
stand die Tür eines Zimmers einladend offen.
»Kommt jetzt«, wiederholte ihr Vater, und Aschure
ließ sich von ihm in den Raum führen. Dort sank sie
gleich auf einen einladenden, reichbestickten und mit
Kissen geschmückten Diwan nieder. Nachdem Wolfstern
den Kopf des Hundes gestreichelt und dem Tier ein paar
freundliche Worte zugemurmelt hatte, trat er ans Fenster
und blickte so lange über den Gralsee hinaus nach
Karlon, bis seine Tochter wieder zu Atem gekommen
war.
Neugierig musterte sie ihn. Er war so schön, wie sie
ihn in Erinnerung hatte, und sie fragte sich, weshalb sie
nichts von seinen Haut- oder Augentönungen oder von
seinem feingliedrigen ikarischen Knochenbau geerbt
hatte.
»Ihr wißt, daß ich Euer Vater bin?« fragte Wolfstern
jetzt, während er sich wieder dem Zimmer zuwandte.
Aschure erinnerte sich an den Kuß zwischen ihnen,
aber sie empfand keine Scham. »Ich weiß, daß Ihr
Wolfstern Sonnenflieger seid, der durch das Sternentor
zurückkehrte, und ich habe auch herausgefunden, daß Ihr
mein Vater seid. Ebenso, daß meine Mutter Niah hieß
und als Priesterin im Tempel der Sterne diente.« Aschures Stimme nahm einen härteren Tonfall an, als bitterer
Groll in ihr aufwallte. »Ich weiß weiterhin, daß Ihr Niah
geschwängert und sie dann ihrem Schicksal überlassen
habt, das nur Kummer, Leid und schließlich den Tod für
sie bereithielt. Ich vermag nur zu ahnen, wie gering Ihr
von mir dachtet, denn wie sonst hättet Ihr mich der
entsetzlichen Obhut Hagens überlassen können. Und
schlußendlich weiß ich, daß Ihr der Mörder von Morgenstern seid.«
Wolfstern trat in die Mitte des Raumes, und sein
Gesicht hatte sich vor Zorn verzerrt.
Aschure war selbst so wütend, daß sie darauf keine
Rücksicht nehmen konnte: »Außerdem ist mir seit
längerem klar, daß Ihr der Verräter sein müßt, der Axis
an Gorgrael verraten wird – wenn Ihr das nicht schon
längst getan habt!«
»Ihr wißt wirklich gar nichts! Ihr habt zwar erraten,
wer ich bin, aber Ihr vermutet lediglich, daß ich durch
das Sternentor zurückgekehrt bin. Ihr mögt von
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