Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
jetzt eines sagen.«
Aschure richtete den Blick auf ihren Vater.
»Ich bin nicht der Verräter, für den mich viele halten.
Der dritte Vers der Prophezeiung spricht zwar von einem
Verräter, aber mit dem bin nicht ich gemeint.«
»Ihr scheint Euren Platz in der Prophezeiung ja recht
gut zu kennen«, entgegnete Aschure heftig.
»Der Verräter hat seinen Schachzug bereits gemacht,
Tochter. Fürchtet nicht länger diejenigen, die sich in
Eurer oder Axis’ Nähe aufhalten. Denn der Verräter hat
sich bereits zu seinem wahren Herrn begeben. Seine
Entscheidung, den Sternenmann zu betrügen, ist bereits
gefallen, obwohl er den endgültigen Verrat bis jetzt noch
nicht begangen hat.«
Aschure starrte Wolfstern an. Von wem sprach er da?
Wer war der Verräter? Aber Wolfstern würde diese
unausgesprochene Frage nicht beantworten. Wieder
strichen seine Fingerspitzen über ihre Wange, und die
Berührung war so leicht, daß Aschure sie kaum spürte.
»Seid versichert, meine Liebe, daß Ihr die Antworten,
nach denen Ihr sucht, auf der Insel finden werdet. Ihr
glaubt, an Axis’ Seite weilen zu müssen, weil Ihr annehmt,
dort am besten für seine Sache kämpfen zu können. Aber
Ihr erweist ihm und Euch selbst den größten Dienst, indem
Ihr Euch fern von ihm die Zeit nehmt, Euch mit Eurer
Macht vertraut zu machen und sie weiterzuentwickeln.«
Sie antwortete mit einem leichten, widerstrebenden
Nicken. »Ich fühle mich in so viele verschiedene
Richtungen gezogen. So viele Menschen, die unterschiedliche Dinge von mir verlangen. Ich brauche
tatsächlich Zeit für mich alleine.«
Er beugte sich vor und kraulte Sicarius unter der
Schnauze, dann schaute er erneut seine Tochter an. »Ihr
seht Eurer Mutter sehr ähnlich, Aschure, und sie war
sehr, sehr begehrenswert.«
Als Wolfstern später zusammengekauert unter den
Sternen saß, dachte er über das nachmittägliche Treffen
mit seiner Tochter nach. Zuerst tauchte Gorgrael mit
seinen Greifen auf, dann Artor, und zu guter Letzt auch
noch der Ring der Zauberin. Verlor er langsam die
Übersicht über die Geschehnisse?
Gut möglich, aber der Umstand, daß der Ring Aschure
auserwählt hatte, flößte ihm große Hoffnungen für die
Zukunft ein. Plötzlich erschienen ihm weder Artor noch
ein Himmel schwarz vor Greifen als eine wirklich
unüberwindliche Bedrohung.
9 J ERVOIS
Während der vergangenen zehn oder elf Tage hatte sich
ein eisiger Alptraum über Jervois gelegt. Niemals in
seinem ganzen Leben hatte Jorge etwas annähernd
Schlimmes erlebt – nicht einmal während der entsetzlichen Bedingungen damals in der Stadt Gorken oder im
letzten Winter, als Gorgrael sie diesem furchtbaren
Wetter aussetzte. Die Sturmfront, wenn man denn das,
was da über sie hereinbrach, mit diesem vergleichsweise
milden Ausdruck belegen konnte, bemächtigte sich
binnen unglaublich kurzer Zeit der Stadt. Eben war es
noch kühl und windig, und die Wolken dräuten schwer
von Schnee, und im nächsten Augenblick wütete auch
schon ein Sturm von solcher Stärke, daß nur die festesten
Steinhäuser der Stadt standhielten. Der Sturm trug Eis
und Tod mit sich, und jeder, der im Freien von ihm
überrascht wurde, starb. Innerhalb von fünf Minuten
verlor Jorge zweitausend Männer. Die vier ikarischen
Kundschafter, die gerade zur Stadt zurückflogen, fielen
steifgefroren vom Himmel.
Sobald ihre Körper auf dem Boden aufprallten, zerschellten sie in winzige Stückchen, die der Wind in
Sekundenschnelle wegblies.
Tag für Tag kauerten Jorge und die Überlebenden
seiner Streitmacht dicht aneinandergedrängt um das
Feuer. Die Verteidigungsanlagen von Jervois – das auf
Bornhelds Betreiben hin errichtete System aus Kanälen –
blieben unbemannt, denn niemand hätte im Freien
überlebt. Und überhaupt, was sollten sie mit solchen
Verteidigungsstellungen noch anfangen? fragte sich der
Graf. Die Kanäle mußten Sekunden nach dem Ausbruch
des Sturms zugefroren sein. Er verzog unter der Decke
das Gesicht und rückte ein paar Zentimeter näher ans
Feuer. Jervois verfügte über keine Verteidigungsanlagen
gegen die Skrälinge mehr.
Die sechstausend verbliebenen Soldaten waren, soweit
Jorge wußte, über die ganze Stadt verstreut. Er schickte
nun nicht länger Kundschafter auf die Straßen, was bei
diesem Wetter wahrhaft grausam gewesen wäre. Deshalb
hatte Axis’ Stellvertreter hier draußen nicht die geringste
Ahnung, wie es um seine Truppe stand.
Am übelsten traf es die acht
Weitere Kostenlose Bücher