Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
enthält ihr Ring? Und warum
habt Ihr so gezittert, als Ihr ihn an meinem Finger
erblicktet?«
»So viele Fragen, meine Tochter.«
Neue Entschlossenheit ließ ihre Stimme härter klingen. »Seit dreißig Jahren stellen sich mir immer neue
Fragen, Wolfstern. Da dürften drei für den Anfang nicht
zuviel sein.«
Der Zauberer seufzte und ließ die Hand sinken. Die
junge Frau hätte ihm schlimmere Fragen stellen können
als diese drei.
»Was wißt Ihr über die erste Zauberin? Nein, wartet«,
warf er hastig ein, als er Aschures verwirrte Miene sah,
»ich frage Euch das nur, damit ich nicht wiederhole, was
Euch unterdessen längst bekannt ist.«
»Daß sie die Mutter war, der sowohl die Charoniten
als auch die Ikarier entstammen. Daß sie, die erste aller
Zauberer und Zauberinnen, über sehr viel Macht
verfügte. Und daß dieser Ring, einst in ihrem Besitz,
unbekannte Kräfte in sich birgt. So weit mir bekannt ist,
benutzte sie ihre Zaubermacht anders als alle anderen
Zauberer – auch als die charonitischen Magier.«
»Die Zauberin war die Mutter der Völker, jawohl.«
Aschure blinzelte. Der Fährmann hatte sie so genannt,
als sie mit den Ikarier und Ramu über die uralten
Wasserwege zum Krallenturm gereist war.
»Man weiß nicht viel über sie. Im Grunde steht uns
über sie nicht mehr zur Verfügung als ein paar Sagen …
und dieser Ring natürlich. Die erste Zauberin war eine
bemerkenswerte Frau, und viel von ihrer Zauberkraft und
ihrer Magie hat sie an ihre beiden jüngsten Söhne
weitergegeben.«
»Ihre jüngsten Söhne?«
Wolfstern grinste. »Die Zauberin bevorzugte ihren
Erstgeborenen keineswegs. Er ist übrigens der Vater des
Volks der Achariten.«
Vor Staunen vergaß die junge Frau für einen Moment,
den Mund wieder zu schließen. »Wollt Ihr damit sagen,
daß die Ikarier, die Charoniten und die Achariten alle von
einer Mutter abstammen?«
Wolfstern grinste jetzt so breit, daß etwas Raubtierhaftes von ihm ausging. »Die Nachkommen ihres ungeliebten Erstgeborenen wurden zu denjenigen, die im Schweiße ihres Angesichts den Boden beackern mußten,
während die Kinder ihrer Lieblingssöhne dazu heranwuchsen, den Mysterien des Universums nachzujagen.«
Aschure fragte sich, was die Achariten wohl davon
halten mochten, wenn sie erfuhren, daß sie dem gleichen
Schoß entsprangen wie die Ikarier und Charoniten.
»Stammen die Awaren ebenfalls von ihr ab?«
»Nein, die Awaren berufen sich auf vollkommen andere Wurzeln. Aber zurück zu dem Ring. Ebenso wie bei der
Zauberin beruht unser Wissen über ihn auf uralten Sagen.
Deshalb erscheint er uns auch voller Rätsel und Geheimnisse.« Wolfstern wußte weitaus mehr darüber, aber es
war nicht an ihm, Aschure davon zu erzählen. Dieses
Recht gebührte den … anderen. »Er selbst enthält gar
nicht soviel Macht, sondern verweist eher auf die Kräfte –
und damit meine ich unvorstellbare Kräfte. Seit vielen
tausend Jahren macht er sich andere gefügig, um seine
eigenen Ziele zu erreichen. Deshalb erschrak ich auch so
heftig, als ich ihn an Eurem Finger erblickte. Auch ich bin
von diesem Ring benutzt worden.«
Ein Zeit lang schwieg er. »Zweifellos habt Ihr auch
vernommen, was die Ikarier sich über meine Herrschaft
als Krallenfürst erzählen.«
»Ja«, flüsterte Aschure. Ihr Vater hatte Hunderte
unschuldiger Kinder durch das Sternentor und damit in
den Tod getrieben, weil er auf diese Weise dessen
Geheimnisse ergründen wollte. Bevor Wolfstern jedoch
den gesamten Nachwuchs des ikarischen Volks auslöschen konnte, hatte ihn sein jüngerer Bruder, Wolkenbruch, getötet. Natürlich hatte niemand unter den
Vogelmenschen – oder irgend jemand aus einem der
anderen Völker, die die Geschichte kannten – je damit
gerechnet, daß Wolfstern durch das Sternentor zurückkehren könnte.
»Nicht nur das Sternentor faszinierte mich, Aschure.«
Sein Ton ließ darauf schließen, daß er nun zu einem
Bekenntnis bereit war, »sondern auch dieser Ring, den
meine Vorfahren über so viele Jahrtausende bewachten.
Ich weiß, es gibt keine Entschuldigung für das, was ich
diesen Kindern angetan habe, aber dieser Reif suchte
meine Träume seit meinen Kindertagen heim und trieb
mich damals zu den wahnsinnigsten Taten. Der Ring
flüsterte mir ein, daß ich diese Kinder dem Sternentor
opfern müsse … der Reif wisperte mir zu, er wolle zu
den Kanälen gebracht werden, um dort zu warten, bis es
ihm gefiele, wieder ins Geschehen einzugreifen.«
Und
Weitere Kostenlose Bücher