Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
war es auch der Ring, der mich zu Niah sandte?
fragte sich Wolfstern. Und gab er mir den Namen des
Kindes ein, das sie empfangen sollte?
Der Verstand riet Aschure, Wolfsterns Worten keinen
Glauben zu schenken. Er benutzte den Ring lediglich als
Entschuldigung für seine eigenen unentschuldbaren
Verbrechen. Ihr Herz beschwor sie jedoch, daß ihr Vater
die Wahrheit sprach.
»Dann wird er sicher danach trachten, mich ebenso zu
benutzen«, rief die junge Frau entsetzt und versuchte, den
Ring vom Finger zu ziehen. »Er wird mir seinen Willen
aufdrängen und mich dazu zwingen, seinen Willen zu
erfüllen!«
»Nein!« rief Wolfstern ebenso laut und nahm ihre
Hände zwischen die seinen, um sie daran zu hindern, den
Ring abzustreifen. »Nein! Die alten Sagen behaupten,
daß er sich eines Tages die Hand aussuchen wird, die
seiner würdig ist – selbst die Zauberin war lediglich eine
seiner Hüterinnen, der Ring gehörte nicht wirklich ihr.
Zehntausende von Jahren mußten vergehen, aber nun
scheint der Ring endlich seine Heimat gefunden zu
haben. Aschure, mich befiel vorhin nicht nur wegen der
ungeheuren Macht großer Schrecken, die hinter diesem
Ring steht, sondern auch, weil ich plötzlich erkannte, daß
ich weitaus mehr Grund habe, Euch zu fürchten.«
Die junge Frau schwieg. Sie blickte ihren Vater aus
großen rauchgrauen Augen unverwandt an. Ihr ganzer
Körper erschien wie erstarrt, und ihr Atem ging so flach,
daß sich ihr Busen kaum hob.
»Aschure, der Ring hat Euch auserwählt … und nun
dient er Eurem Willen. Er hat Euch zu seiner rechtmäßigen Trägerin erkoren.«
»Aber ich weiß doch gar nicht, wie ich ihn benutzen
soll, und verstehe erst recht nichts von der großen Macht,
für die er Euren Worten zufolge stehen soll«, erwiderte
Aschure. »Wolfstern, einer der Gründe, warum ich
herkam, war der, Euch zu befragen, wie ich meine Macht
am besten gebrauchen kann. Ihr müßt es mir beibringen!
Axis ist dringend auf meine Unterstützung angewiesen!«
»Eines Tages werde ich Euch alles beibringen, was ich
weiß, meine Tochter, aber dieser Tag ist noch nicht
gekommen.« Und was ich Euch lehren kann, wird wenig
genug sein, Aschure, mein Herz.
»Verflucht sollt Ihr sein!« schrie Aschure und entriß
ihm ihre Hände. »Ich muß es wissen!«
»Aschure, hört mir zu. Glaubt mir, dies ist weder der
richtige Ort noch die richtige Zeit. Nein! Jetzt hört zu!
Weder ich noch irgend jemand sonst wird Euch unterrichten, solange Ihr mit diesen beiden Kindern schwanger
geht – Ihr könntet sonst Geheimnisse erfahren, die vor
den Kindern verborgen bleiben müssen.«
Unwillkürlich öffnete Aschure den Mund, um die
Zwillinge zu verteidigen, schloß ihn jedoch, als ihr die
anhaltende Feindseligkeit der Kinder Axis gegenüber
einfiel. Und auch die Gleichgültigkeit, die sie ihrer
Mutter gegenüber an den Tag legten. Sie legte eine Hand
auf ihren Leib.
»Und dies ist nicht der rechte Ort, Euch zu unterrichten«, fuhr Wolfstern fort. »Es gibt einen Ort, an dem Ihr
rasch und mühelos zu lernen vermögt. Einen Ort, zu dem
auch andere hinzugezogen werden können, um an Eurer
Ausbildung mitzuwirken. Ein Haus, wenn ich so sagen
darf, in dem die Macht mit größerer Wahrscheinlichkeit
zum Leben emporlodert.«
»Die Insel des Nebels und der Erinnerung. Der Tempelberg …«
»Richtig! Aber wie konntet Ihr das wissen?«
»Niah empfahl mir, zum Tempelberg zu gehen … als
sie im Sterben lag.«
Wolfstern ging nicht auf die Bitterkeit in ihrer Stimme
ein. Aber sein Blick trübte sich, als ihn die Erinnerung
einholte. »Ach … Niah.« Vielleicht hatte Niah gewußt, was
Wolfstern eben erst zu begreifen begann. Aber sie war die
Erste gewesen, und vielleicht war sie als Erste ohnehin
besser als er mit den Geheimnissen der Götter vertraut.
»Bitte«, begann Aschure, »erklärt mir, warum Ihr uns
so herzlos von Euch gestoßen habt.«
»Das kann ich nicht, Aschure«, erwiderte er. »Viele
Dinge bedürfen der Erklärung, aber damit muß ich
warten, bis Ihr allein seid …« Die junge Frau wußte, daß
er damit die Zeit nach der Entbindung meinte, »und Ihr
Euch auf der Insel des Nebels und der Erinnerung
aufhaltet …«
Schweigend saß Aschure halb von ihm abgewandt da.
Sie wollte bei diesem Treffen noch soviel mehr erfahren.
»Alles, was ich tat, diente einem bestimmten Zweck«,
erklärte Wolfstern schließlich, denn er verstand ihren
Schmerz. »Eines Tages werden die Gründe offenbart.
Aber laßt mich Euch
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