Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
Zeit setzte sie sich wieder aufrecht
hin, wischte die Tränen weg, hob den Brief auf und
faltete ihn sorgfältig zusammen, bevor sie ihn in eine
Tasche ihres Gewandes steckte.
Draußen vor der Tür wartete die Erste Priesterin. Sie
streckte die Hand nach Aschure aus, aber die junge Frau
wich vor ihr zurück. »Was wißt Ihr über meine Empfängnis, Erste Priesterin?«
Die Augen der alten Frau leuchteten teilnahmsvoll auf.
»Nur das, was Eure Mutter mir erzählte. Daß ihr ein Gott
in der Kuppel erschienen sei und von ihr verlangte, die
Insel zu verlassen. Das ist alles.«
Aschure straffte die Schultern. »Und wenn Ihr unter
der Kuppel sitzt, Erste Priesterin, ist Euch da bei
Vollmond jemals ein Gott erschienen?«
Die Frau senkte den Blick. »Nein. Niemals.«
»Dann seid dankbar dafür«, erwiderte Aschure mit
harter Stimme, »daß Ihr solcherart gesegnet wurdet.«
Sternenströmer fuhr hoch, aus dem Schlaf geschreckt von
der sich öffnenden Tür und leisen Schritten. »Aschure?«
Er hörte sie zitternd Luft holen und erkannte, daß sie
geweint haben mußte. »Meine Liebe? Was ist mit Euch?
Was ist nur geschehen?«
Die junge Frau setzte sich zu ihm aufs Bett, und lange
Zeit sprach sie kein Wort. Er ergriff ihre Hand und strich
ihr das Haar aus der Stirn. Anscheinend war sie dankbar
für diese Berührung.
»Sternenströmer?«
»Ja?«
Wieder schwieg sie lange. »Kann ich diese Nacht bei
Euch bleiben?«
»Aschure!«
»Bitte«, meinte sie, während ihr die Tränen über die
Wangen liefen und der Zauberer sie schließlich in die
Arme nahm und sie mit seinen Flügeln umfing. »Bitte,
haltet mich einfach fest, Sternenströmer, und sagt mir,
daß Ihr mich liebt.«
19 D AS
B
ARDENMEER
Vom Wald der Schweigenden Frau aus arbeitete sich
Faraday langsam nordöstlich in Richtung der Alten
Grabhügel vor. Endlich hatte sie damit anfangen können,
den Zauberwald anzupflanzen. Binnen weniger Tage
fühlte sie sich zerschlagen, müde und über alle Maßen
einsam. Beinahe ständig war ihr übel, und wenn sie des
Nachts erschöpft fertig war, konnte sie sich kaum zum
Essen zwingen. Die Wärme und die Annehmlichkeiten
des Turms der Schweigenden Frau schienen zu einem
anderen Leben zu gehören.
Faraday hatte nicht damit gerechnet, daß ihr die
Pflanzarbeit soviel von ihrer körperlichen Kraft und der
Ruhe ihres Gemüts abverlangen würde.
Jede Nacht warf sie sich unruhig hin und her, und ihre
Träume führten sie von Urs Gärtnerei zu dunklen,
unangenehmen Orten, die ihr fremd waren. Jeden
Morgen erwachte sie, um sich Hunderten kleiner
Terracottatöpfchen gegenüberzusehen, und jeder Setzling
strotzte nur so vor Lebensfreude und Fröhlichkeit. Die
Edle wußte nicht mit Sicherheit zu sagen, wie sie hierher
gekommen waren. Aber sie nahm an, daß sie, ohne
wachzuwerden, viele Stunden ihres Schlafes damit
zubrachte, sich zwischen dem Heiligen Hain und dieser
Welt zu bewegen, immer zwei Töpfe auf einmal mit sich
tragend. Kein Wunder, daß sie erschöpfter aufwachte, als
sie sich niedergelegt hatte. Faraday pflegte sich hochzukämpfen und die Schößlinge mit einem matten Lächeln
zu bedenken, sich dazu zu zwingen, ein paar Bissen zu
essen, um dann mit einem weiteren Tag des Einpflanzens
zu beginnen.
An dem Morgen, an dem Faraday den Turm der
Schweigenden Frau verließ, fand sie draußen nur noch
zwei Esel vor, der eine mit Satteltaschen beladen, der
andere vor einen kleinen blauen Wagen mit flacher
Ladefläche geschirrt. Das verwirrte die Edle, aber nur,
bis sie am darauffolgenden Morgen erwachte und sich
von Hunderten kleiner Töpfe umgeben sah. Ohne den
Wagen hätte sie diese unmöglich hierherbefördern
können.
Faraday verbrachte den Tag und den größten Teil der
Dämmerung damit, die Schößlinge in das Land der
Sterblichen zu bringen. Sie bewegte sich wie in Trance,
manchmal ohne genau zu wissen, was sie da eigentlich
tat, und manchmal beinahe vollkommen orientierungslos
und losgelöst von allem. Sie mußte sich auf die Stärke
der Mutter verlassen, die ihr die Kraft zum Weitermachen verleihen würde.
Sie setzte die kleinen Bäumchen weit voneinander
entfernt ein, in der Regel mit wenigstens hundert
Schritten Abstand voneinander, und, ausgehend vom
Wald der Schweigenden Frau, in östlicher Richtung.
Faraday stolperte vorwärts und mußte sich oft mit
blutenden Händen an den Mähnen der Esel festklammern, um nicht zu stürzen, bis ihr ihr Gefühl und der Ruf
eines
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