Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
Setzlings anzeigten, daß der richtige Moment
gekommen war.
Die Edle ließ die Esel anhalten, griff nach dem Bäumchen, das gerufen hatte, und sank zu Boden, bis sie auf
den Knien lag. Mit Fingern, die schmerzhaft danach
verlangten, endlich mit der Arbeit zu beginnen, legte sie
den Schößling zur Seite, um dann verzweifelt ein Loch in
die harte Erde zu graben. Anschließend hob sie mit
blutigen, erdigen Fingern vorsichtig die Pflanze aus dem
Topf, sprach leise auf sie ein, nannte sie beim Namen,
ermutigte sie, groß und kräftig zu werden, und erzählte
ihr, daß das Warten ein Ende habe und die endgültige
Verwandlung bevorstehe.
Sobald Faraday die Erde rund um den Sämling festgeklopft hatte, griff sie nach der hölzernen Schale, die auf
dem Wagen stand und ständig mit lebensspendendem,
smaragdgrünem Wasser gefüllt war. Sie wußte nicht,
woher das Naß stammte, denn sie selbst füllte die Schale
nie. Sorgfältig sprengte sie ein wenig Wasser über den
Setzling und die Erde um ihn herum. Dabei sang sie das
Lied, mit dem sie und Sternenströmer vor so langer Zeit
den Erdbaum erweckt hatten, damals, als die Skrälinge
die Haine von Awarinheim angegriffen hatten.
Faraday betete darum, daß die Kraft des Erdbaums so
weit in den Süden reichen und auf irgendeine Weise
Willenskraft und Stärke in seine winzige Tochter fließen
lassen möge; denn die weiblichen awarischen Magier, die
nach ihrem Tod als Bäumchen wiedergeboren wurden,
standen zu diesem Naturheiligtum in einer ganz besonderen Verbindung. Dann kniete Faraday für einige Minuten
lang vor dem Schößling, der so tapfer dem kalten Wind
der nördlichen Hochebenen von Tarantaise standhielt.
Die Pflanzen wirkten so klein, so verletzlich, daß
Faraday sich oft fragte, ob die Bäumchen die ersten
schwierigen Monate überleben würden.
Und wie lange mochte es dauern, bis sie wirklich
herangewachsen waren? Faraday war keine Gärtnerin,
aber sie wußte, das Bäume die Zeitspanne eines Menschenlebens brauchten, um ihre Zweige in den Himmel
zu strecken. Stand ihr ein Menschenleben zur Verfügung,
um darauf zu warten, daß der verzauberte Wald Wurzeln
schlug und austrieb? Konnte Axis so lange warten? Oder
Tencendor?
Dann pflegte die Edle zu seufzen, bis sie es geschafft
hatte, wieder auf den Beinen zu sein und überließ den
leise summenden Setzling sich selbst, während sie weiter
und immer weiter in Richtung Norden taumelte.
Das Ende eines jeden Tages kam sie am härtesten an.
Faraday arbeitete bis tief in die Dämmerung, um die
Schößlinge des jeweiligen Tages einzusetzen. Aber wenn
sie sich nach dem Land umdrehte, das sie bearbeitet
hatte, sah sie nichts als die wogenden Gräser der
trostlosen Ebene. Irgendwo da draußen befanden sich
mehrere hundert Bäumchen, einige tausend nach zwei
Wochen, aber Faraday konnte sie nicht sehen, und selbst
das leise Summen der jungen Setzlinge hatte sich in den
einsamen Hochebenen hinter ihr verloren.
Standen sie noch dort? Würden sie die kalten Nächte
überstehen? Den peitschenden Regen und den nicht mehr
allzu weit entfernten Winter? Den hohen Schnee, unter
dem sie gnadenlos begraben sein würden?
Faraday hatte angenommen, das Pflanzen würde ihr
mehr Freude bereiten. Aber es gab nichts als die welligen
Ebenen und den ständigen Schmerz in ihren Fingern,
ihrem Rücken und ihren Beinen. Und jeden Morgen
mehrere Hundert neue Schößlinge, die ihr sanft zunickten, sobald sie ihre übermüdeten Augen öffnete.
Zwei Wochen, nachdem sie mit dem Anpflanzen
begonnen hatte, erreichte Faraday den Halbkreis der
Alten Grabhügel, eine der heiligsten Stätten der Ikarier.
Die Edle wußte, daß sie hier mit einiger Wahrscheinlichkeit auf eine Versammlung von Zauberern stoßen
würde. An diesem Ort hatte sie Axis zum ersten Mal
ihre Liebe gestanden, hier, wo ihre Mutter, Merlion,
gestorben war. Von hier hatten Jack und Yr sie von dem
Mann, den sie liebte, weggelockt zu ihrem Gemahl, der
ihr soviel von ihren Illusionen und ihre Jugend genommen hatte. Sie kam zu dem Schluß, daß es sich bei
diesem Ort um einen Ort des Todes handeln mußte,
nicht nur wegen der Gräber der sechsundzwanzig
Zauberer-Krallenfürsten.
Drei Tage lang pflanzte sie einen Kreis um die Grabhügel, wobei sie die Ikarier ignorierte, die hoch über
ihrem Kopf einherflogen und sie, ihren Wünschen und
ihrer Aufgabe gemäß, unbehelligt ließen. Schließlich,
eines späten Abends, betrat sie die uralte
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