Das Vermachtnis der Sternenbraut - Unter dem Weltenbaum 05
nicht.
Nicht mit einem an sie adressierten Brief.
Sie drehte das Schreiben herum. Darauf stand ein
einziges Wort, mit dunkler Tinte in kühnem Schwung
quer darüber geschrieben. Aschure.
Immer noch zitternd nahm die junge Frau das Pergament, erbrach das Siegel und fing an zu lesen.
Meine über alles geliebte Tochter Aschure, möge Euch
ein langes und von Freude erfülltes Leben beschieden
sein, und mögen die Sterne in ihren Himmeln allein zu
Eurer Freude tanzen.
Ich schreibe diese Zeilen, gefangen im Schatten des
abnehmenden Mondes, und in dem Maß, in dem er
schwindet, fühle ich, wie mein Leben immer tiefer in
seinen Schatten gezogen wird. In diesen Stunden spüre
ich mit aller Klarheit, daß mein Tod nicht mehr lange auf
sich warten läßt. Vor fünf Tagen habe ich Euch empfangen, und heute Abend, nachdem ich meine Schreibfeder
niedergelegt habe, werde ich diese gesegnete Insel
verlassen. Ich werde nie mehr zurückkehren – aber ich
hoffe, daß Ihr es eines Tages tun werdet.
Vor fünf Nächten kam Euer Vater zu mir.
Der volle Mond stand am Himmel, und als Erste
Priesterin stand mir das Vorrecht zu, in der Kuppel der
Sterne zu sitzen und mich in seinem Licht und seiner
Lebenskraft zu baden. Ich hörte Eures Vaters Stimme,
bevor ich ihn sah.
»Niah,« flüsterte eine vor Macht bebende Stimme
durch den Kuppelraum, und ich fuhr auf, da viele Jahre
vergangen waren, seit ich meinen Geburtsnamen zum
letzten Mal gehört hatte.
»Niah«, flüsterte die Stimme von neuem, und ich
zitterte vor Furcht. Zürnten mir die Götter? Hatte ich
ihnen während all meiner Jahre auf dieser geheiligten
Insel, in diesem vielfach gesegneten Tempel nicht gut
genug gedient?
»Niah«, erklang die Stimme wieder, und mein Zittern
nahm zu, denn trotz meines der Keuschheit geweihten
Lebens erkannte ich den Tonfall kaum verhüllten
Verlangens … und ich fürchtete mich.
Ich stand da, und nur jahrelange Ausbildung und
Disziplin verhinderten, daß ich weglief. Verzweifelten
Blickes suchte ich das Dach ab, und konnte erst einmal
nichts erkennen, aber dann erregte eine schwache
Bewegung meine Aufmerksamkeit.
Ein Schatten wand sich vom Dach der Kuppel zu mir
herunter und trotz meiner Furcht fand mein Verstand die
Zeit, sich zu fragen, wie es dem Gott gelungen sein
mochte, durch die filigranen Strukturen des Kuppeldaches zu kommen – aber er war schließlich ein Gott, und
ich hätte mich nicht wundern dürfen.
Der Schatten lachte und sprach meinen Namen noch
einmal aus, als er schließlich vor mir stand.
»Ich habe Euch auserwählt, meine Tochter zu gebären«, erklärte er, während er mir die Hand entgegenstreckte, wobei seine Finger aufleuchteten. »Sie wird den
Namen Aschure tragen.«
In diesem Augenblick verging mir alle Furcht, als
hätte sie nie bestanden. Aschure … Aschure … Niemals
zuvor hatte ich einen Mann wie Euren Vater zu Gesicht
bekommen, und ich weiß, daß es in diesem Leben auch
niemals wieder der Fall sein wird. Er hatte die Gestalt
eines ikarischen Vogelmannes angenommen, und sein
nackter Körper glich den Alabasterstatuen der Vogelmenschen, die, wie man sich erzählt, den großen Kreis
des Sternentores umsäumen. Seine Flügel schimmerten
golden, sogar in der Dunkelheit der nächtlichen Kuppel,
und sein Haar leuchtete wie kupfernes Feuer. Die
violetten Augen blitzten, gesättigt von Macht.
Aschure, uns Sternenpriesterinnen bringt man bei,
jedem Verlangen der Götter zu willfahren, selbst wenn
ihre Wünsche uns verwirren, aber ich ging aus eigenem
Antrieb zu ihm, nicht aus Pflichtgefühl. Ich trug nichts
als ein einfaches Hemd, und seine Augen und Finger
loderten auf. Ich ließ das Hemd zu Boden gleiten und trat
vor, bis seine Finger mich berührten.
Als seine Hand die meine ergriff, erschien es mir, als
sei ich von dem Lied der Sterne eingehüllt. Und als sein
Mund den meinen eroberte, glaubte ich mich vom Sog
der Gestirne bei ihrem Tanz erfaßt. Seine Macht
überwältigte mich so sehr, daß ich spürte, wie er mit
einem einzigen Gedanken mein Leben auslöschen
könnte.
Vielleicht hätte ich Furcht empfinden müssen, aber für
einen Gott behandelte er mich überaus sanft – ganz im
Gegensatz zu meinen Erwartungen –, und wenn er mir in
dieser Nacht Schmerzen zufügte, dann erinnere ich mich
nicht mehr daran.
Doch an was ich mich erinnere … ach, Aschure,
vielleicht habt Ihr inzwischen selbst einen Liebhaber
gehabt! Aber wißt Ihr, wie es sich anfühlt, wenn derjenige, der
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