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Das Vermaechtnis

Das Vermaechtnis

Titel: Das Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angela Scherer-Kern
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an sie. Es brach mir das Herz, sie abgeben zu müssen, auf die gleiche Weise, wie deine Mutter es tat, sonst hätte man dieses kleine unschuldige Wesen getötet, und mich, und den Vater. Eine Priesterin darf keine eigenen Kinder haben, darf keinen körperlichen Kontakt zu einem Mann haben. Die Liebe gilt allein den Göttern. Ich zog mich für die Zeit, in der die Frucht in meinem Leib reifte, in meine Räume zurück, unter dem Vorwand einer tiefen Verstimmung. Niemand sollte mir zu nahe kommen. So blieben wir unentdeckt, meine Tochter und ich. Ich wusste, ich muss sie diesem Schicksal überlassen, und ich gab ihr all meine Liebe in dieser Zeit, um sie für ihr Leben zu stärken, falls sie überlebte. Und ich betete und flehte Innana um Hilfe, dass sie auch sie lieben würde, so wie mich, und so wie dich. Die Ungewissheit ist eine Qual, sie ist die Strafe. Die Götter straften mich nicht mit dem Tod, sondern mit dem Leben, um es zu ertragen. Sie haben mir das Leben gewährt, so lebe ich für die Götter. Sieben Jahre sind seither vergangen.
    Die Blumen am Eingang des Tempels sind für sie, jeden Tag frisch, falls sie irgendwann einmal zu mir findet. Möge sie mir verzeihen. Möge sie mir verzeihen!“
    Sie senkt den Kopf und schließt ihr langes Gebet an ihren Vater. Ruhe. Wieder gibt sie ein paar Körner Myrrhe und Weihrauch in die Glut. In Gedanken wartet sie, bis der Rauch sich verzieht. Und geht.
     
     
     „Edle Encheduanna-Kyr , komm ganz schnell, Sa-La-Na der Geschichtenerzähler ist wieder da, vorn, auf dem großen Platz mit dem Brunnen!“, ruft ein Mädchen, das schnell die Treppen zum Tempel hinauf auf sie zugelaufen kommt.
    „Oh, ich danke dir, dass du kommst, um mir das zu berichten. Wie lange ist er schon da?“, fragt sie die Kleine und lässt sich ihre Unruhe nicht anmerken.
    „Er ist soeben erst gekommen, aber er fängt bestimmt gleich an zu erzählen. Komm, du magst die Geschichten doch auch so gern hören, dann kannst du wieder ein Lied danach spielen“, ruft das Mädchen weiter aufgeregt.
    „Lauf nur zu – ich folge dir“, sagt Encheduanna-Kyr und schon ist die Kleine wieder fort in Richtung Brunnenplatz.
    Encheduanna-Kyr geht langsam hinterher. Etwas Zeit braucht sie, um sich darauf einzustellen, ihn wieder zu sehen. Oder sollte sie nicht? Nein, er würde sie auf jeden Fall aufsuchen, also konnte sie ihm entgegengehen. Oh, sie freute sich, wie sehr freute sie sich! Ihren Kummer drückte sie beiseite und beschloss, es zu genießen, die kurze Zeit, die sie ihn jetzt sehen würde.
    Nur zwei Häuserecken weiter sieht sie ihn vor dem Brunnen auf einem Holzschemel sitzen, mit seinem langen gelockten Vollbart, jedoch glatten, schulterlangen, mittelblonden Haaren, wie immer zu einem Zopf gebunden und einem Rock aus schwerer Wolle, umgeben von einer wirbelnden Schar Kinder. Seine Haarfarbe war ungewohnt. Es verhielt sich bei ihm so ähnlich wie bei ihr, denn sie hatte wohl auch von ihrer Mutter ihre auffällig hellen Haare, die jedoch ihres Priesteramtes wegen stets geschoren wurden.
    Sie hält sich verborgen im Schatten der Hauswand und hört zu.
     
    „Kinder, bevor ich euch die weise Geschichte des Gilgamesch erzähle, will ich euer Wissen erfragen.
    Wer weiß, wo die Sonne aufgeht?“, hört sie ihn fragen.
    Blitzschnell stellt sich ein Junge vor ihm auf und sagt: „Da ist ein Loch in den großen Bergen ganz weit dort hinten im Osten. Dort kommt sie jeden Morgen aus einem Tunnel heraus.“
    „Genau, und wo geht sie abends unter?“, fragt er weiter.
    Alle deuteten auf die andere Seite, und ein kleinerer Junge ruft, dass sich seine Stimme fast überschlägt:
    „Dort hinten in den anderen Bergen ist auch ein großes Loch. Dort taucht sie jeden Abend wieder unter und zieht die ganze Nacht durch den Tunnel unter unserer Erde durch, bis sie wieder auf der anderen Seite herauskommt.“
    „Genau!“, bestätigt Sa-La-Na freudig. „Das ist die Sonnenbahn des Sonnengottes Schamasch – das wisst ihr schon sehr gut.
    Und was ist über der Erde?“
    „Da sind die sieben Himmel der Götter!“, riefen zwei Kinder fast gleichzeitig.
    „Wunderbar! Wisst ihr auch, wo das Reich der Toten ist?“
    „In einer Parallelwelt unter unserer Welt, und am Rande der Welt kommt man hin im fernen Westen“, meldet sich ein dunkelhäutiges Mädchen mit strahlenden Zähnen aufgeregt und erzählt gleich weiter: „…Und dazwischen ist der große Süßwasserozean. Von dem kommt das gute Wasser für unsere Quellen

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