Das Vermächtnis der Feen (German Edition)
Aber Arthur erhielt keine Antwort. Fassungslos beobachtete er, wie das Purpurherz mit einem Mal eine Funkenkaskade versprühte.
Dann sprach Josie wie in Trance die Worte:
Von den Dingen zu den Träumen,
zu den tief verborg’nen Räumen,
möge dieses Tor mich bringen.
Weiche, Stein, und lass mich ein!
Arthur wollte eben sein Erstaunen kundtun, als etwas so Eigenartiges geschah, dass es ihm die Sprache verschlug: Josie hatte kaum das letzte Wort gesprochen, da spaltete sich der Stein in zwei Hälften. Ein Gang tat sich auf. Eng, doch breit genug, ihn zu passieren. Wie eine Schlafwandlerin trat Josie durch die Pforte. Und Wolf folgte ihr, als hätte er auf diesen Augenblick nur gewartet.
»Josie! Warte!«, rief Arthur.
Doch bevor er nur daran denken konnte, ihr nachzukommen, fand er sich völlig verwirrt allein in der Bibliothek. Nichts, rein gar nichts wies auf das unfassbare Geschehen hin, dessen einziger Zeuge er war. Keine Spur von einer Öffnung, keine von einem Stein. Die Halbsäule mit den geschnitzten Ranken glänzte im warmen Licht der Stehlampe. Sein Blick wanderte zur Uhr. Punkt Zwölf. Immer noch. Er horchte. Nein, sie tickte nicht.
3
Zwischen den Welten
Musst ins Breite dich entfalten,
Soll sich dir die Welt gestalten;
In die Tiefe musst du steigen,
Soll sich dir das Wesen zeigen.
Nur Beharrung führt zum Ziel,
Nur die Fülle führt zur Klarheit,
Und im Abgrund wohnt die Wahrheit.
FRIEDRICH V. SCHILLER
(1759–1805), dt. Dichter
Josie schritt mechanisch voran. In dem sicheren Wissen, dass es kein Zurück mehr gab, setzte sie einen Fuß vor den anderen wie eine aufgezogene Spielzeugpuppe. Dankbar spürte sie Wolf neben sich, seinen schweren Atem, die beruhigende Wärme seines großen Hundekörpers.
Der Gang war schmal und mit rotem Ziegel grob ausgemauert. Über schier unzählige Stufen führte er abwärts. Dann verbreiterte er sich allmählich und schien nun in rohen Felsen gehauen zu sein. Erst jetzt wunderte sie sich über die lodernd brennende Lichtquelle, die an der Decke vor ihnen hertanzte. Was ist das?
»Ein Feuersalamander«, antwortete eine dunkle, klangvolle Stimme auf ihre unausgesprochene Frage.
Josie wirbelte herum. »Hallo? Ist da wer?«
»Nur ich. Keine Angst! Es sind nicht deine Ohren, die mich hören. Es ist dein Herz.«
Josie blieb stehen. »Wolf?«
Der Hund blieb ebenfalls stehen. »Ganz recht, wir sind Gefährten.«
Sie starrte ihn entgeistert an. Wolf kommunizierte mit ihr über Gedankenaustausch. Hörst du mich jetzt?, dachte sie, um ihn zu testen.
»Ich fühle all deine Gedanken.«
Josie war hin und her gerissen zwischen dem Schock, dass der Hund, dem sie vor ein paar Stunden noch ihre Tellerreste überlassen hatte, zu ihr sprach – und der Erleichterung, einen starken vierbeinigen Weggefährten neben sich zu wissen, mit dem sie sich austauschen konnte.
Das seltsame Feuerwesen, das vom Kopf bis zur Schwanzspitze in Flammen zu stehen schien, huschte im Zickzack über die Decke, als würde es ungeduldig.
Josies Augen folgten seinem unruhigen Treiben.
»Warum verbrennt er nicht?«
»Salamander sind Feuerwesen«, hörte sie wieder Wolfs Stimme. »Das Feuer ist sein Element. Ein Fisch ertrinkt im Wasser auch nicht.« Wolf schlug in einer auffordernden Geste mit dem Schwanz. »Lass uns weitergehen! Wir werden erwartet.«
Josie setzte sich wieder in Bewegung. Was war Wolf für ein Wesen? Woher wusste er das mit dem Salamander und dass sie erwartet wurden?
»Du willst wissen, wer ich bin? Dann möchte ich dir eine Geschichte erzählen«, begann ihr vierbeiniger Partner und Josie wurde klar, dass sie ihm tatsächlich keinen ihrer Gedanken verheimlichen konnte.
»Du hast ja bereits von Conall O’Reardon, dem Erbauer des Hauses gehört. – Es fällt mir schwer …« Wolf machte eine trübsinnige Pause, die Josie nicht zu unterbrechen wagte. Dann begann er erneut: »Es ist nicht leicht, über Fehler zu sprechen, über Schuld und Verderben … Nun gut. So hör mir zu!«
Während Wolf sprach, stand das ernste Gesicht Conalls auf dem Ölgemälde vor Josies innerem Auge. Sie erfuhr, dass sich Arthurs Urahn schon als Kind brennend für die alten Mythen interessierte, die sein Vater und Großvater als wandernde Erzähler von Ort zu Ort trugen, wie es die alte Tradition des Bardentums verlangte.
»Der Junge glaubte fest an die Existenz der Anderwelt. Von klein auf wuchs in ihm der Herzenswunsch, wenigstens einmal eine der
Weitere Kostenlose Bücher