Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
er den Dorfbewohnern für ihre Aufmerksamkeit, dann entfernte er sich angemessenen Schrittes, wobei er sein Pferd am Zügel führte. Niemand folgte ihm. Die Menschenmenge hatte sich schweigend aufgelöst.
Wachsam überquerte er den Marktplatz, dann beschleunigte er sein Tempo, bis er die Gasse erreichte, in der er vorher den Schatten gesehen hatte. Hier blieb er aufatmend stehen.
„Ihr solltet Euch nicht zu früh freuen, mein Prinz!“ Erschrocken fuhr Julius herum. Direkt hinter ihm stand eine schlanke, in Dunkelgrün gekleidete Gestalt.
„Larenia!“, er entspannte sich etwas, als er die Gildeherrin erkannte. „Du hast mich erschreckt. Und du hättest eher da sein sollen.“
„Das war ich. Eine Tatsache, über die Ihr froh sein solltet.“ Beschämt senkte Julius den Blick. Er wusste, dass seine Vorwürfe nicht gerechtfertigt waren, immerhin hatte er sie selbst im Schatten stehen sehen. Doch der Schreck war noch zu nahe gewesen. Nie zuvor hatte ihn jemand mit derartiger Mordlust angesehen. Es war eine schreckliche Erfahrung. Und dennoch würde er sie noch oft auf seiner Reise machen.
Larenia war inzwischen weitergegangen und Julius musste sich beeilen, um sie einzuholen.
„Wie hast du das gemacht?“
Larenia sah ihn aus dem Schatten ihrer Kapuze heraus fragend an.
„Die Menschen im Dorf. Sie waren bereit, mich zu lynchen, und sie hätten es vielleicht sogar getan. Und plötzlich nehmen sie alles, was ich gesagt habe, hin, ja, sie akzeptieren es vollkommen klaglos. Das ist nicht normal. Also, wie hast du das gemacht?“
Einen Augenblick lang schien es, als wollte sie antworten, doch dann wurde ihr Blick sehr nachdenklich und sie schwieg. Erst als sie das Dorf verlassen hatten und nach Süden in Richtung Navalia ritten, sprach sie wieder: „Es war Empathie“, und als Julius sie ratlos anschaute, fügte sie hinzu, „die Fähigkeit, Gefühle oder körperliche Empfindungen anderer aufzunehmen. Mein Volk hat eine neue und spezielle Verwendungsmöglichkeit für diese Gabe gefunden.“
Noch einmal glaubte er, die Menschen von Magiara vor sich zu sehen, die Geschwindigkeit, mit der unbändige Wut zu dumpfer Resignation geworden war. Er wusste nicht, was er von Larenias Kräften halten sollte. Sicher, dieses Mal hatte sie ihn mit ihrer Magie gerettet. Aber wozu mochten die Gildemitglieder noch fähig sein? Woher würde man in Zukunft wissen, ob man aus freiem Willen oder als Marionette dieser kleinen, zierlichen Elfe handelte?
„Oh, ich weiß, was du jetzt denkst! Glaub mir, genauso dachte ich auch einst und ich tue es noch. Doch manchmal ist es notwendig, das Falsche zu tun. Und wie könnte ich mich abwenden, ohne zu helfen, ohne ein Leben zu retten, wenn es in meiner Macht steht? Was weißt du darüber? Über das Gefühl …“ Das Gefühl, jeden Schmerz, Trauer, Hass und Leid mitzuempfinden, und zu wissen, dass es keine Linderung gibt. Die Gedanken der Menschen auf sich einstürmen zu fühlen, bis man darin erstickt und nicht mehr weiß, wer man eigentlich ist …
Erstaunt beobachtete Julius ihr Gesicht. Für einen winzigen Augenblick wirkte sie gequält und gehetzt und in ihren dunklen Augen stand ein Ausdruck von solcher Hilflosigkeit, dass ihm nach Weinen zumute war. Nie zuvor hatte er erlebt, dass Larenia die Kontrolle über eine Situation verlor. All die Jahre war sie ihm nicht zuletzt wegen ihrer unerschütterlichen Sicherheit verehrungswürdig erschienen. Und auch dieser Moment verging so schnell, dass Julius fast an seinem Verstand zweifelte. Die Kapuze war ihr vom Kopf gerutscht und ihr schimmerndes Haar flatterte im Wind. Aber nichts in ihrer Haltung verriet auch nur die geringste Gefühlsregung. Sie war schön und kühl wie immer, wenn auch etwas abwesend.
Lange Zeit ritten sie schweigend durch das flach-wellige Land. Das Wetter war schön und über allem lag eine tiefe Stille, die Julius nach der langen Zeit in Arida besonders stark empfand. Wären nicht die erschreckenden Ereignisse vom Morgen gewesen, er hätte nicht geglaubt, dass diesem Land Krieg bevorstand. Denn hier, weitab jeder menschlichen Siedlung, war es ruhig und friedlich. Die Küste war in der Nähe Navalias weniger schroff und steil, und wenn man noch weiter nach Süden ritt, würde man die lieblichen Gefilde des südlichen Aquaniens erreichen. Doch in dieser Gegend war Julius selten gewesen und auch diesmal würde ihn seine Reise nicht dorthin führen.
Am späten Nachmittag erreichten sie Navalia. Obwohl die Stadt
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