Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
ihr, Rowena, galt, oder ob es nur seine Art war, seine Dankbarkeit gegenüber der Person, die sein Leben gerettet hatte, auszudrücken. Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie sich wünschte, es wäre ein Ausdruck seiner Zuneigung zu ihr. Und dann fragte sie sich, warum es sie kümmern sollte.
„Du warst heute schon sehr früh unterwegs.“
Verhaltene Neugier schwang in dieser Feststellung mit.
„Ja …“, Rowena trat neben ihn und ließ den Blick über die Dächer der kleinen, dunklen Arbeiterhäuser und die breiten Straßen, auf denen bequem zwei Kutschen nebeneinanderfahren konnten, schweifen, „ich wünschte, ich könnte dir die Stadt zeigen.“
Zu spät bemerkte sie sein leichtes Zurückweichen und seinen verschlossenen Gesichtsausdruck. Einen Moment lang sah sie ihn verständnislos an, aber dann begriff sie. Natürlich brachte er der Machtzentrale derer, die ihn unter derart grausamen Bedingungen eingesperrt hatten, keine übermäßige Liebe entgegen.
„Ich weiß, was du denkst“, bewusst schlug sie einen heiteren Ton an, um ihn von seinen düsteren Gedanken abzulenken, „aber du hast bisher nur einen kleinen Teil von Butrok gesehen. Nicht die ganze Stadt ist so wie das Hafenviertel. Vieles ist sehr schön, freundlich und voller Leben. Natürlich ist es nicht so großartig wie deine Stadt“, bei dem Gedanken an die großen, gepflegten Städte Anorias hatte sie das Gefühl, ihre Heimat verteidigen zu müssen.
„Meine Stadt? Ach, du meinst Arida“, zu ihrer Überraschung begann Pierre zu lachen, „ich würde Arida nicht unbedingt als meine Stadt bezeichnen. Du wärst sehr erstaunt beim Anblick unserer Städte“, als er ihren ratlosen Blick sah, fügte er hinzu, „es gibt nur eine Stadt der Kandari, die diesen Namen verdient. Und großartig wäre nicht das erste Wort, das mir einfallen würde. Tatsächlich glaube ich, dass Laprak und das Königreich der Kandari viel gemeinsam haben.“
Eine Weile schwiegen sie beide. Aus dem Augenwinkel heraus betrachtete Rowena sein Gesicht. Es kam selten vor, dass er so vollkommen ernst war. Dann senkte sie den Blick und erinnerte sich wieder an ihr Mitbringsel. Mit einiger Mühe wuchtete sie das Paket auf den Tisch und begann, die Decke wegzuziehen.
„Ich habe Collyn getroffen“, erklärte sie in sachlichem Tonfall, „und er hat mir das hier gegeben.“
Sie enthüllte Pierres Schwert, das die Brochonier ihm bei seiner Gefangennahme abgenommen hatten. Mit großen Augen betrachtete er die Waffe. Sie war aus einem Material gefertigt, das die Kandari Silberstahl nannten und das inzwischen sehr kostbar geworden war, schön und absolut tödlich. Mit geübter Leichtigkeit, die Rowena voller Bewunderung beobachtete, zog er die Klinge hervor. Dann wurde er sich ihrer Anwesenheit wieder bewusst.
„Nun bin ich dir schon wieder zu Dank verpflichtet“, sagte er lächelnd, „es ist eine alte Angewohnheit: Ohne Schwert fühle ich mich verloren. Allerdings fürchte ich“, fügte er in seinem halb spöttischen Tonfall hinzu, „wird es noch eine Weile dauern, bis ich es wieder verwenden kann.“
Sieben Tage Verzögerung, dachte Julius empört, als er eingehüllt in seinen schweren Reitmantel durch die Gänge des Palastes von Arida hastete. Vor sieben Tagen hätte er zu seinem Ausflug nach Askana, das nur einen Dreitagesritt entfernt lag, aufbrechen sollen, ja, er hätte bereits zurück sein können, aber sein Vater hatte sein Missfallen über diesen Plan sehr deutlich ausgedrückt. Es war zu gefährlich, allein durch Anoria zu reiten trotz des Waffenstillstands, das behauptete zumindest Julien. Und obwohl Julius wusste, dass der König recht hatte, hatte er gegen diese Entscheidung rebelliert. Er hatte sich so darauf gefreut, Elaine wiederzusehen. Erst die Nachricht, dass François, Philipe und Felicius ebenfalls in diese Richtung unterwegs waren und er mit ihnen gehen durfte, stimmte ihn wieder versöhnlicher. Dennoch, überlegte er mit einem Anflug von Trotz, konnten sieben Tage eine Ewigkeit sein, besonders jetzt, da er keine anderen Aufgaben zu erfüllen hatte. Die Zeit der hektischen Betriebsamkeit, welche die Stadt der Könige lange Zeit erfüllt hatte, war vorüber und seit seiner Rückkehr hatte Logis einen großen Teil seiner, Julius’, Aufgaben übernommen. Natürlich eignete sich der Arianer-Fürst viel besser für die Stellung des Heerführers, doch der junge Prinz versank in Untätigkeit und Langeweile. All die Tätigkeiten, wegen
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