Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
derer er früher seine Studien vernachlässigt hatte, erschienen ihm jetzt nichtig und bedeutungslos. Ihm blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten und zu beobachten, was als Nächstes geschah. Immerhin, heute sollte es losgehen. Bei diesem Gedanken schlang er seinen Schal um den Hals, denn innerhalb weniger Tage war der Winter hereingebrochen. Eine dünne Schneedecke überzog die Hochebene von Arida und es war sehr kalt geworden. Im Norden Aquaniens war es eine harte, eisige Jahreszeit, die einem nur die Wahl ließ, sich so warm anzuziehen, dass man sich kaum noch bewegen konnte, oder zu erfrieren. Dennoch war Julius froh, den warmen, schützenden Palast verlassen zu können. In den letzten Tagen waren ihm die Mauern des Schlosses beinahe wie die Wände eines Gefängnisses vorgekommen.
Jetzt eilte er einen weiteren Gang entlang in Richtung Ausgang, doch gerade, als er um die letzte Ecke biegen wollte, hörte er Stimmen. Er verlangsamte seine Schritte, ohne sagen zu können, warum, und blieb schließlich ganz stehen. Nun erkannte er auch die Sprecher: Felicius, der als einziges Gildemitglied die gemeinsame Sprache mit einem deutlich hörbaren Akzent sprach, und Larenia, die eine alte Diskussion fortzusetzen schienen.
„Wirklich Felicius, du solltest nicht gehen“, sie schaffte es, gleichzeitig besorgt und geistesabwesend zu klingen. Felicius reagierte nur mit einem leisen, gutmütigen Lachen.
„Warum nicht?“, meinte er, „du vergisst, dass ich kein Kämpfer bin, ich könnte dir also hier kaum von Nutzen sein. Warum sollte ich dann nicht denen helfen, die mich brauchen?“
Vorsichtig spähte Julius um die Ecke. Selbst aus dieser Entfernung erkannte er, dass Larenia mit seiner Antwort nicht zufrieden war. Aber sie widersprach nicht. Tatsächlich schien sie ihre Umgebung nur am Rande wahrzunehmen. Felicius musterte sie kritisch.
„Vielleicht solltest du auch mitkommen“, bemerkte er nach einem Augenblick des Schweigens, „ein paar Tage fern von Arida wären sicher gut für dich. Du siehst erbärmlich aus.“ Er sagte das mit einem Lächeln, doch es bestand kein Zweifel daran, dass er diese Worte genau so gemeint hatte. Julius jedoch verstand ihn nicht. Für ihn sah die Gildeherrin aus wie immer, etwas zu perfekt, um menschlich zu sein.
Für einen kurzen Moment sah Larenia Felicius direkt an und schenkte ihm ein kurzes, freudloses Lächeln: „Ich kann nicht. Ich muss die Barrieren aufrechterhalten. Die Brochonier beobachten uns und warten auf einen Fehler, eine winzige Schwäche in unserer Abwehr …“, ihre Stimme verklang. Julius verstand nicht ganz, was sie damit meinte, aber Felicius nickte nur. Dann fixierte sie mit einiger Mühe ihren Blick auf Felicius’ Gesicht: „Noch wissen sie nicht, dass ich nicht für alle Kandari gesprochen habe und dass es kein Heer der Elfen geben wird. Und sie dürfen es nie erfahren. Es ist nicht einfach, diese Illusion aufrechtzuerhalten“, sie seufzte, „aber es ist notwendig.“
Sie bemerkte Julius, der verlegen hinter seiner Ecke hervortrat. Es war ursprünglich nicht seine Absicht gewesen zu lauschen. Larenia wechselte in ihre eigene Sprache.
„Irgendetwas wird geschehen. Ich weiß es und ebenso genau weiß ich, dass es besser wäre, du würdest hierbleiben. Also sei wenigstens vorsichtig.“
Felicius sah sie mit diesem Blick an, den alle Gildemitglieder für sie reserviert zu haben schienen: ernst und gleichzeitig warm und voller Fürsorge.
„Ich werde vorsichtig sein, das verspreche ich dir. Aber du siehst Gefahren, wo keine sind.“
Sie schüttelte leicht den Kopf: „Ich wünschte, es wäre so. Versuche einfach, lebend zurückzukommen. Das würde mich schon glücklich machen.“
Mit einem kurzen Nicken in Julius’ Richtung ging sie. Der junge Prinz sah ihr einen Moment lang nach. Sie bewegte sich wie eine Schlafwandlerin und ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren. Dann trat er neben Felicius und gemeinsam verließen sie den Palast.
Aber Felicius, der so froh gewesen war, Arida für eine Weile verlassen und seiner eigentlichen Aufgabe als Heiler nachgehen zu können, schritt nur zögernd die Freitreppe hinunter. Larenias Warnung hatte ihre Wirkung auf ihn nicht verfehlt. Er sagte sich, dass sie nicht in die Zukunft sehen – denn soweit er wusste, besaß sie nicht Philipes Gabe, die Konsequenzen aller Entscheidungen zu sehen – und dass sie also unmöglich wissen konnte, was geschehen würde. Aber seine Zweifel waren nicht so leicht
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