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Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Kandari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tracy Schoch
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gesamte Kraft gekostet, aber inzwischen gelang es ihm mühelos, aufzustehen und zum Fenster zu gehen. Allerdings konnte er den linken Arm immer noch nicht richtig bewegen.
    Geistesabwesend sah er auf die breiten Straßen Butroks herab. Der erste Frost, dachte er, als er auf die von einer dünnen Eisschicht überzogenen Dächer blickte. Sommer und Herbst waren vergangen und bald würde der Winter beginnen. Wie es den anderen Gildemitgliedern wohl ergangen war? Pierre wusste es nicht. Zwar hatte Rowena ihm ab und zu etwas über den Fortgang des Krieges erzählt, aber er war zu müde gewesen, um ihr lange zuzuhören. Immerhin hatte er von dem Waffenstillstand gehört, den Larenia für Anoria ausgehandelt hatte.
    Er seufzte und lehnte sich an die Wand. Gern wäre er nach Anoria zurückgekehrt oder hätte wenigstens eine Nachricht geschickt, doch das war vollkommen unmöglich. Das hatte ihm Norvan, mit dem er vor zwei Tagen gesprochen hatte, unmissverständlich klargemacht. Eigentlich war es auch nicht nötig, denn während des Winters konnte er nichts tun. Warum also sollte er nicht noch etwas länger bleiben? Die brochonischen Druiden hatten ihre Suche nach ihm beendet und Rowena war seiner Gesellschaft noch nicht überdrüssig. Das behauptete sie zumindest.
    Unwillkürlich lächelte Pierre bei dem Gedanken an das brochonische Mädchen. Sie war wirklich erstaunlich. Bisher hatte er nur wenige kennengelernt, die ihre Meinung derart entschieden durchsetzen konnten. Larenia vielleicht, aber mit der Gildeherrin konnte sich keiner vergleichen. Außerdem betrachtete er Larenia eher als Schwester und vergriff sich dadurch oft im Ton, wenn er wieder einmal vergaß, mit wem er eigentlich sprach. Mit Rowena jedoch verhielt es sich anders. Zuerst war es nur Dankbarkeit gewesen. Sie hatte sein Leben gerettet und dabei ihr eigenes riskiert und er wollte nicht, dass sie diese Tat bereute. Doch dann hatte er angefangen, sie zu bewundern: ihren starken Willen, ihr Durchsetzungsvermögen und die Tatsache, dass sie im Angesicht des Unmöglichen nicht aufgab, ihre Liebenswürdigkeit und ihren Idealismus, der es ihr ermöglichte, gegen das unmenschliche Regime ihres Onkels zu rebellieren. Nie hätte Pierre gedacht, dass er so für einen Menschen empfinden könnte. Obwohl er in Anoria lebte, hatte er den engen Kontakt mit diesem Volk Larenia, François und Felicius überlassen. Das Leben eines Menschen war so kurz, dass es sich seiner Meinung nach kaum lohnte, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Zwar brachte er dem einen oder anderen Anerkennung und Respekt entgegen, doch meistens betrachtete er sie mit einer distanzierten Verwunderung, mit der man eine seltene Tierart ansehen mochte. Umso verwirrender war für ihn seine Bekanntschaft mit Rowena und ihrem Bruder.
    Das Geräusch einer zuschlagenden Tür riss ihn aus seinen Gedanken. Pierre sah sich um und erblickte Rowena, die am Eingang stand, eingehüllt in einen pelzgefütterten Mantel und mit vom kalten Wind geröteten Wangen. In den Armen hielt sie einen langen, offensichtlich schweren Gegenstand, der sorgfältig in eine Decke eingeschlagen war. Sie streifte ihre Kapuze ab, dann entdeckte sie Pierre, der noch immer am Fenster stand. Einen Moment lang musterte sie ihn sorgenvoll, etwas, das beinahe schon eine Gewohnheit geworden war. Zuerst hatte ihn dieser besorgte Blick gestört. Er hatte nie gern zugegeben, dass er manchmal auf die Hilfe anderer angewiesen war. Aber er nahm es Rowena nicht übel. Heute schien sie mit dem Ergebnis ihrer Musterung zufrieden zu sein, obwohl er in ihren Augen noch immer sehr blass aussah. Vielleicht verstärkten auch einfach die dunkle Kleidung, die Sachen ihres Bruders, und sein leuchtend rotgoldenes Haar diesen Eindruck. Jedenfalls ging sie jetzt mit einem beinahe schüchtern wirkenden Lächeln auf ihn zu. Es war für Rowena eine sonderbare Situation. Manchmal hatte sie das Gefühl, Pierre schon eine Ewigkeit zu kennen. Alles an ihm, sein Gesicht, der Klang seiner Stimme, war ihr so vertraut. Und dann fiel ihr ein, dass sie dem Kandari vor weniger als zwei Monaten zum ersten Mal begegnet war. Sie konnte unmöglich erkennen, wie er darüber dachte. Stets begegnete er ihr mit der gleichen, freundlichen, etwas zurückhaltenden Höflichkeit. Doch in einigen seltenen Augenblicken, wie in diesem, als er ihr Lächeln, ohne darüber nachzudenken, erwiderte, war sie sich sicher, dass er sie wirklich gernhatte. Und dann fragte sie sich, ob dieses Lächeln

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