Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Angst, sie könnte die Kontrolle über ihre Kräfte verlieren.
Einen Augenblick lang stand sie im Schatten des hohen, pyramidenförmigen Gebäudes und ließ den Blick über die Hochebene schweifen. Dann ging sie langsam und gedankenverloren entlang der Steilküste in Richtung Magiara. Leise knirschte der Schnee unter ihren Füßen und ein paar Flocken schwebten lautlos herab und blieben in ihrem weißen Haar hängen. Auch hier war es still, die Ruhe vor dem Sturm.
Über dem ganzen Land lag eine beinahe unerträgliche Spannung, die nichts mit dem drohenden Unwetter zu tun hatte. Zuerst hatte Larenia geglaubt, es wäre nur eine Einbildung, eine Projektion ihrer eigenen Rastlosigkeit, doch so war es nicht. Selbst hier, fern von allen Menschen, fühlte sie ihre Angst, ihre Gewissheit, dass das Schlimmste noch vor ihnen lag, und die schweigende Drohung der Brochonier, die sich jenseits der Grenze sammelten, bereit für einen letzten, entscheidenden Kampf.
Nachdenklich ging sie weiter, ohne die frostigen Temperaturen oder den schneidenden Wind wahrzunehmen. Sie hatte so viel falsch gemacht, zu viele Fehler seit der Schlacht um Arida. Sie hatte geglaubt, eine gute Verteidigung wäre genug, aber ihre Passivität wäre ihnen beinahe zum Verhängnis geworden. Wahrscheinlich hätte sie Komar, vielleicht sogar Dalane retten können, hätte sie ihre Kräfte so eingesetzt wie in jenem ersten Kampf. Die Bewahrer hätten es getan. Aber Larenia konnte es nicht. Sie war mit den unerbittlichen ethischen Grundsätzen der Kandari von Asana’dra aufgewachsen und in den Augen ihres Volkes war es Mord, jemanden mit Magie anzugreifen. Es gab dafür keine Entschuldigung, keine Rechtfertigung. Und dennoch hatte sie es getan und dabei fast die Welt vernichtet. Nur Arthenius und vielleicht Felicius wussten, wie nah sie einer solchen Katastrophe gekommen waren.
Danach hatte sie sich entsetzt und verängstigt aus allem herausgehalten. Sie hatte den Ereignissen ihren Lauf gelassen und dies war nun das Ergebnis. Pierre war irgendwo in Laprak und damit außerhalb ihrer Reichweite. Die Brochonier hatten einen Großteil des Königreichs von Anoria erobert und bedrohten sie von drei Seiten. Und ihr eigenes Volk, in das sie trotz allem so viel Vertrauen gesetzt hatte, beobachtete und wartete, gelähmt durch die Unentschlossenheit ihres Königs. Alles, was ihr jetzt noch blieb, war ein wahnsinniger Plan, der vom guten Willen ihrer unzuverlässigen Verbündeten abhing. Im Zentrum dieses Plans stand Askana. Askana, das eine Falle für die Brochonier sein sollte, die jedoch nur zuschnappen konnte, wenn sie sowohl die Kandari als auch den brochonischen Widerstand zum Handeln bewegen konnte. Noch wusste sie nicht, wie sie das schaffen sollte, aber sie würde einen Weg finden.
Sie hob den Blick und sah sich um. Inzwischen war es vollkommen dunkel geworden, dennoch erkannte sie die dicht zusammengedrängten Häuser Magiaras in der Ferne. Es war spät geworden und wahrscheinlich sollte sie umdrehen. Noch vor dem Morgengrauen würde der Sturm mit voller Kraft losbrechen. Aber dann entdeckte sie eine einzelne Gestalt, die sich, gegen Wind und Schnee ankämpfend, mühsam vorwärtsquälte. In einer schnellen, fließenden Bewegung hob sie den Arm und eine Energiekugel flammte über ihrer Handfläche auf. Dann jedoch unterdrückte sie den Reflex. Kein Brochonier würde zu dieser Jahreszeit, noch dazu allein, in diesen Teil des Landes kommen.
Der Fremde hatte sie beinahe erreicht. Er wäre an ihr vorbeigegangen, hätte sie ihn nicht angesprochen. Jetzt sah sie, dass es sich um einen Menschen aus dem Dorf handelte, einen vielleicht zehnjährigen Jungen, hoch aufgeschossen, beinahe so groß wie Larenia, und dabei entsetzlich dünn.
„Was ist geschehen?“, die Worte klangen schärfer als beabsichtigt. Nur eine größere Katastrophe konnte ihn bei diesem Wetter hierhergeführt haben. Der Junge fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um. Einen Moment lang starrte er sie mit offenem Mund an, dann schien er zu begreifen, dass es sich bei seinem Gegenüber um ein lebendes Wesen handelte.
„Wer … wer bist du?“, stotterte er. Er hatte sie nicht erkannt. Alles, was er sah, war ein sechzehnjähriges Mädchen, das in kaltem, befehlsgewohntem Tonfall sprach und deren Blick ihn zu fesseln schien. „Ich weiß es nicht genau“, sagte er schließlich mit zitternder Stimme, „unsere Heilerin schickte mich zum Zauberturm. Die Hälfte des Dorfes ist krank, sie werden
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