Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
sterben, wenn uns niemand hilft.“ Die Worte klangen hilflos und verzweifelt.
„Du würdest dort nicht lebend ankommen.“
Sie ging weiter und das Kind folgte ihr nach kurzem Zögern.
„Wirst du uns helfen?“, fragte er schließlich schüchtern. Ihre Kälte und Zurückhaltung erschreckte und verwirrte ihn. Woher sollte er auch wissen, dass Larenia vor langer Zeit gelernt hatte, dass Mitleid niemandem half?
„Ich werde es versuchen.“ Sie drehte sich um und sah die Angst im Gesicht des Jungen. Er zitterte vor Kälte und konnte ihr kaum folgen. Wärmer und mit einem freundlichen Lächeln, das er trotz der Dunkelheit wahrnahm, fragte sie: „Wie heißt du?“
„Luke …“, seine Zähne schlugen unkontrolliert aufeinander, „mein Name ist Luke. Und du?“
Aber in diesem Moment erreichten sie ein flaches, lang gestrecktes Haus. Luke öffnete die Tür, schob eine Decke, die zum Schutz gegen die Kälte hinter der Tür aufgehängt worden war, beiseite und trat vor Larenia ein.
Im Inneren des Hauses war es beinahe ebenso kalt und dunkel wie draußen. Jemand hatte die Möbel an die Wände gerückt. Stattdessen lagen zwanzig oder mehr kranke und sterbende Menschen auf Matratzen und Strohsäcken am Boden. Im Kamin flackerte ein Feuer, das den Namen kaum verdiente und das weder Licht noch Wärme zu spenden vermochte. Eine alte Frau, wahrscheinlich die Heilerin von Magiara, saß auf einem Hocker an der Wand und beobachtete eine jüngere Frau und ein vielleicht zwölfjähriges Mädchen, die zwischen den Kranken auf und ab liefen. Hin und wieder hustete oder stöhnte einer von ihnen im Schlaf, sonst war es nahezu vollkommen still.
Für einen kurzen Moment verschwamm das Bild vor Larenias Augen und wurde von einer alten Erinnerung überlagert …
… die weißen, schmucklosen Gänge des Palastes von Arida zur Zeit der letzten Pestepidemie. Man hatte die Kranken hierhergebracht, um die Ausbreitung der Seuche zu stoppen, und jeder wusste, dass es ein Todesurteil war, hier zu landen. Es gab kein Heilmittel, nichts, was die Symptome der Krankheit lindern konnte. Sogar die Gildemitglieder mit all ihrer Magie waren machtlos. Sie hatten es versucht. Tagelang hatten sie sich gemüht, sie hatten darum gekämpft, Leben zu retten und die Krankheit zu besiegen. Doch es war gefährlich und am Ende hatten sie aufgegeben, auch wenn es den Tod Hunderter bedeutete …
Sie blinzelte und konzentrierte sich wieder auf die Wirklichkeit. Die alte Frau hob den Kopf, als die Tür ins Schloss fiel. Sie erkannte Luke und sagte leise, um die Kranken nicht zu stören, und zugleich vorwurfsvoll: „Du bist schon wieder zurück? Du solltest doch –“, ihr Blick blieb an Larenia hängen und sie verstummte. Schwerfällig erhob sie sich, nur um gleich darauf auf die Knie zu sinken. Die beiden anderen, alarmiert durch die Bewegung der Heilerin, sahen auf und knieten dann ebenfalls nieder. Die Menschen von Magiara verehrten die Gildemitglieder wie Götter und anders als Luke erkannten diese drei sofort, wen sie vor sich hatten.
„Herrin“, flüsterte die alte Frau und ihre Stimme bebte gleichermaßen vor Hoffnung und Angst, „verzeiht uns.“
Offensichtlich hatte sie nicht damit gerechnet, dass Luke Erfolg haben würde. Jetzt wusste sie nicht, wie sie sich verhalten oder was sie von Larenia erwarten sollte. Vorsichtig hob sie den Kopf und beobachtete, wie die Gildeherrin an Luke vorbei in die Mitte des Raumes trat. Larenia bewegte ihre Hand in die Richtung des Kamins. Im gleichen Augenblick flammte das Feuer auf und brannte dann hell und knisternd. Erst jetzt wandte sie sich den Menschen zu. Die drei Frauen knieten noch immer. Luke dagegen drückte sich an die Wand und versuchte, keine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Verehrung der Menschen war Larenia unangenehm, denn noch hatte sie nichts getan, um ihre Dankbarkeit zu verdienen. Alles, was die Dorfbewohner über sie wussten, stammte aus alten Legenden, von denen nicht einmal die Hälfte wahr war.
„Was ist hier geschehen?“, fragte sie die alte Heilerin im Dialekt des nördlichen Aquaniens.
Unsicher stand die Frau auf und sah Larenia voll Ehrfurcht an: „Ich weiß es auch nicht genau“, begann sie zögernd, „zuerst waren es nur ein paar Erkältungen, die wir nicht ernst genommen haben. Und jetzt …“, sie deutete mit einer vagen Handbewegung auf die Menschen, die in unruhigem Schlaf auf dem Boden lagen. Alle wirkten blass und ausgemergelt, einige hatten vom Fieber gerötete
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