Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
einfach nur pflichtbewusst oder voll innerer Überzeugung erfüllst.“
Julius wusste nicht, was er antworten sollte. Was wollte er mit seinem Leben anfangen? Er wusste es nicht.
Logis schien seine Gedanken zu erraten.
„Vielleicht solltest du dir zuerst darüber klar werden, was regieren für dich bedeutet.“
„Nun …“, seine Lehrer hatten es ihm mehr als einmal erklärt, aber er konnte sich nicht erinnern. Schließlich sagte er leise: „Ich möchte doch nur, dass alle glücklich sind, dass es Gerechtigkeit und Ordnung in Anoria gibt und dass niemand hungern oder die Zukunft fürchten muss.“
„Du bist genauso naiv wie Julien. Aber blinder Idealismus wird dich nicht weiterbringen. Du kannst niemals allen helfen. Wenn du das nicht begreifst, wirst du ebenso wie dein Vater an der Realität verzweifeln.“
„Das weiß ich …“, Julius strich sich mit der Hand durch das dunkle Haar und richtete sich in seinem Sessel auf, „wie kann ich inzwischen meinen Titeln gerecht werden? Ich bin alles andere als ein Heerführer.“
„Wer von uns könnte das schon von sich behaupten“, bemerkte Logis lächelnd, dann wurde er wieder ernst, „du bist kein schlechter Fechter und du weißt mehr über Anoria und seine Geschichte als viele andere, aber dir fehlt der Blick für das große Ganze, für die Zusammenhänge. Das ist es, was du lernen musst, doch dir bleibt dafür nicht viel Zeit“, er begegnete Julius’ zweifelndem Blick, „mach dir nicht zu viele Sorgen. Alles ist möglich, wenn du es wirklich willst.“
Einen Moment lang saß Julius nachdenklich da und sein innerer Konflikt zwischen dem, was er für richtig hielt, und der so bequem scheinenden Alternative widerspiegelte sich deutlich auf seinem Gesicht. Dann sah er Logis entschlossen an: „Ich will es“, sagte er leise und sehr überzeugt.
Der elfte Monat des Jahres 400 war einer der sonderbarsten in der Geschichte Anorias. Seit Beginn des Krieges hatten die Menschen in ständigem Schrecken gelebt, doch diese Furcht war verständlich und leicht zu benennen gewesen: ein allmächtig scheinender Feind, Kämpfe und der Tod durch das Schwert. Doch seit dem Anfang des Waffenstillstandes waren diese Sorgen einer anderen, schwerer greifbaren, dafür aber nicht weniger realen Angst gewichen. Der Angst vor Krankheiten und Hunger, vor den plündernden und raubenden Gruppen von Gesetzlosen, die durch das Land zogen und nicht einmal mehr vor den befestigten Städten zurückschreckten. Für die meisten Menschen waren diese Probleme nichts Neues, doch solange Frieden im Land herrschte und Julien für die Einhaltung der Gesetze gesorgt hatte, hatten sie kaum Bedeutung gehabt.
Obwohl das Wetter in diesem Jahr bis zum plötzlichen Wintereinbruch mild gewesen war, war die Ernte knapp und dürftig gewesen. Zu viele hatten fluchtartig ihre Heimat verlassen und die wenigen, die zurückblieben, hatten einen großen Teil ihres Besitzes zur Ernährung der Armee abgeben müssen. Jetzt lebten die unterernährten Menschen dicht gedrängt in den wenigen sicheren Siedlungen und Gebieten. Krankheiten breiteten sich rasend schnell aus. Und jene, die davon verschont blieben, sahen voller Angst und Grausen in die Zukunft.
Sédécia
Es war einer jener typischen, eisig kalten Winternachmittage im Norden Aquaniens. Das graue Tageslicht schwand bereits und wich der trüben, rötlichen Abenddämmerung. Es war eine trostlose, harte Jahreszeit in diesem Landstrich. Eine dicke Eisschicht bedeckte das kurze, struppige Gras und beschränkte die Möglichkeiten der Fortbewegung auf ein wackliges Dahinschlittern. Und dann waren da die Stürme, die mit vernichtender Gewalt über die Hochebene fegten und die Menschen oft tagelang an ihre Behausungen fesselten. Auch heute kündigte sich ein solcher Sturm an, auch wenn bisher nicht mehr zu sehen war als ein paar Wolken in der Ferne und ab und zu eine Windböe, welche die dünne pulverige Schneeschicht, die das Eis bedeckte, aufwirbelte und so alle Spuren verwischte. Niemand würde an einem solchen Tag sein Haus freiwillig verlassen.
Larenia jedoch kümmerte sich nicht um das schlechte Wetter oder die Kälte. Sie war froh, den Zauberturm wenigstens für kurze Zeit verlassen zu können. Manchmal hatte sie das Gefühl, es nicht mehr ertragen zu können. Das angespannte, sorgenvolle Schweigen, die ständige Konzentration, die notwendig war, um den magischen Schutzschild aufrechtzuerhalten, und die Wachsamkeit der anderen, die ewige
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