Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
sie auf die gleiche, halb ängstliche, halb erwartungsvolle Weise. Sie sahen in ihr eher ein Symbol als ein denkendes und fühlendes Wesen. Im Laufe der Jahre hatte sie gelernt, diese Haltung als gegeben hinzunehmen, doch noch immer war es ihr sehr unangenehm.
Jetzt achtete sie nicht weiter auf die Geschehnisse in der Hütte. Sie lehnte in der Nähe des Kamins, in dem das Feuer noch immer hell brannte, an der Wand, ohne irgendetwas zu tun, ja sogar ohne zu denken. Nachdem sie die ganze Nacht gearbeitet hatte, war sie müde, aber es war nicht die gleiche vollkommene Erschöpfung wie in jener Nacht, in der sie Felicius’ Wunden geheilt hatte. Dann jedoch schüttelte sie die beinahe angenehme Trägheit ab und trat neben die alte Heilerin, die vorsichtig die Decke, mit der man das Fenster verhangen hatte, zur Seite schob und nach draußen spähte. Der Sturm hatte seinen Höhepunkt erreicht und man sah nichts außer großen, dicht fallenden Schneeflocken. Eilig rückte die Frau die Decke zurück an ihren Platz. Dann drehte sie sich zu Larenia um. Sie war vom Alter und von Sorgen so gebeugt, dass sie zu der Gildeherrin aufsehen musste.
„Wir danken Euch, Herrin. Ihr habt vielen von uns das Leben gerettet“, bei diesen Worten verbeugte sie sich, so tief sie konnte. Larenia akzeptierte ihren Dank mit einem kurzen Nicken und blickte dann auf die Menschen, die in kleinen Gruppen zusammensaßen, herab.
„Ich fürchte nur, dass es eure Probleme nicht lösen wird. Wahrscheinlich dauert es nicht lange, bevor sich die nächste Krankheit ausbreiten wird.“
Die Heilerin folgte ihrem Blick: „Ich weiß es, Herrin, aber wie könnte ich es ändern? Es war ein gutes Jahr, dennoch haben wir nicht genug zu essen, kaum Feuerholz und die Männer, die sonst auf die Jagd gegangen sind, sind in den Krieg gezogen. Dazu kommt noch die neue Steuer“, sie jammerte nicht und bat nicht um Hilfe. Vielleicht erwartete sie kein Verständnis von der Gilde. Möglicherweise erkannte sie auch, dass Larenia ihr geholfen hätte, stünde es in ihrer Macht. So sagte sie nichts mehr, sondern beobachtete schweigend, wie Larenia nach ihrem Mantel griff und zur Tür ging. Als sie bereits die Hand nach der Klinke ausstreckte, schien die Heilerin es sich anders zu überlegen: „Wollt Ihr wirklich in diesem Sturm nach Hause gehen?“, fragte sie in freundlichem, beinahe mütterlichem Ton. „Bleibt, solange Ihr wollt.“
Larenia schüttelte lächelnd den Kopf: „Euer Angebot ist sehr freundlich, doch ich kann es nicht annehmen.“
Die alte Frau nickte, sie hatte nichts anderes erwartet. Dennoch sah sie ihr mit leisem Bedauern nach. Es wäre schön, die Verantwortung mit jemandem teilen zu können. Aber bevor sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, wandte sich die alte Heilerin schon wieder ihren Pflichten zu.
„Arthenius! Arthenius, wach auf!“
Die melodische Stimme kam ihm vage bekannt vor, aber sie wollte nicht so recht zu der Hand passen, die ihn reichlich unsanft schüttelte. Obwohl, hin und her schleudern, beschrieb es vielleicht besser. Einen Augenblick lang dachte er darüber nach, weiterzuschlafen, doch dann öffnete er die Augen.
„Larenia?“, nuschelte er, „ist etwas passiert?“
„Nein“, sie schüttelte den Kopf und eine Mischung aus Schnee und kaltem Wasser regnete auf Arthenius herab, „es ist alles in Ordnung. Ich habe eine Idee und ich brauche deine Hilfe, um sie umzusetzen.“
„Jetzt?“, widerwillig setzte er sich auf und sah Larenia an. Sie war gerade erst hereingekommen. Ihr Mantel hing voller Eis und Schnee und ihr langes Haar, das langsam zu trocknen begann, ringelte sich zu kleinen Löckchen. „Wo warst du eigentlich?“
„In Magiara.“
Hellwach erwiderte sie seinen Blick. Sie lächelte, als Arthenius demonstrativ die Augen verdrehte. Er hatte seine Meinung zu ihren nächtlichen Spaziergängen durch die vereiste Landschaft bereits sehr deutlich ausgedrückt.
„Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“, er versuchte, gleichzeitig interessiert zu klingen und ein Gähnen zu unterdrücken.
„Kurz vor Sonnenaufgang“, sie zog ihren durchweichten Mantel aus und ein weiterer Eiswasserschauer rieselte auf Arthenius herab, „wirst du mir helfen?“
Seufzend stand er auf und lief ein paar Mal auf und ab. Dann drehte er sich zu Larenia um, die mit angezogenen Beinen auf der Bettkante saß und ihn beobachtete. Er kannte den Ausdruck fieberhafter Aktivität in ihren Augen und wusste, dass sie jede Ablehnung
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