Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
immer da, wartete darauf, dass sie die Augen öffnete, um sie mit ihrem unschuldigen, forschenden Blick zu quälen. Und dann lachte sie wieder, ein Geräusch wie das sanfte Plätschern des lieblichen, warmen Sommerregens. Patricia kniff die Augen zusammen, doch die Erscheinung ließ es nicht zu, dass ihre Gedanken abwanderten. Das Mädchen stimmte ein neues Lied an und die einstige Königin konnte sich dem zwingenden Klang ihrer Stimme nicht entziehen.
Schwerfällig zog Patricia sich auf die Füße. Die Willensanstrengung, die dafür notwendig war, war unglaublich groß, und der Entschluss, zu sprechen, kostete sie all ihre Kraft.
„Wer bist du?“, ihre Stimme zitterte, klang rau und fremd. So ganz anders als das Lachen und der Gesang des Kindes.
Das Mädchen unterbrach sein Lied und sah die Frau in der Ecke des Zimmers groß und neugierig an.
„Toya.“
„Toya?“, wiederholte Patricia, ohne zu verstehen.
Das Mädchen nickte heftig: „Das ist mein Name.“ – „Es bedeutet Seele in einem alten Dialekt, hat meine Mama gesagt“, fügte sie ernsthaft hinzu. Dann sprang sie von ihrem Sitz und begann, fröhlich um den Tisch zu tanzen. Patricia ignorierte sie völlig.
„Aber wer bist du? Was bist du?“
Das Mädchen verharrte mitten in der Bewegung: „Ich bin, wozu du mich gemacht hast“, es klang, als habe sie diese Worte auswendig gelernt, aber auf Patricia wirkte es scharf und anklagend. Sie stützte sich inzwischen mit beiden Händen an der Wand ab und ihre Augen flackerten wirr: „Warum bist du hier?“
Wieder ertönte das silbrige Lachen: „Du hast mich gerufen. Und es gibt keinen anderen Ort, zu dem ich gehen könnte. Dafür hast du gesorgt.“
Sie drehte sich um und hüpfte weiter singend um die Möbel. In diesem Augenblick begann Patricia zu begreifen, wohin all das führen würde. Aber sie konnte sich nicht abwenden. Irgendetwas zwang sie, auf Toya zuzugehen. Wie eine Blinde tastete sie sich zur Raummitte.
„Was willst du von mir?“
Toya umrundete den Stuhl, der zwischen ihnen stand, und schritt auf sonderbar würdevolle Weise auf Patricia zu. Diese wich zitternd, beinahe panisch vor dem kleinen Mädchen zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß.
„Von Schuld“, sagte sie mit veränderter Stimme, „führt nur Sühne zur Erlösung.“
Und dann änderte sich ihre Erscheinung.
Das pausbäckige Gesicht des Kindes wurde schmal, die Augen groß und eindrucksvoll. Und die roten Locken verblassten, fielen schließlich glatt, seidig, hell und strahlend über ihre Schultern wie Wasser im Mondschein.
„Komm!“, flüsterte das Mondmädchen und ihre Stimme vibrierte, war erfüllt von kosmischer Harmonie. „Ich zeige dir die Wirklichkeit.“
Plötzlich holte die Welt Patricia ein. So wie damals, als Larenias Gedanken die ihren berührt hatten und ihr zum ersten Mal die ganze Tragweite ihres Verrats bewusst geworden war. Es waren keine Bilder, keine klaren Gedanken, sondern reine Empfindungenen und es gab keine Worte, um sie zu beschreiben. Denn wie fasst man das Wesen des Schmerzes in Worte? Welchen Weg gibt es, das eigene Leid einem anderen begreiflich zu machen? Für Patricia war es zu viel. Die Emotionen Tausender … Qual, Wut, Liebe, Leidenschaft, Hass, Grausamkeit, Verzweiflung … Es zerriss sie. Und alles, was sie wusste, war, dass sie die Verantwortung für all das trug. Selbsthass überflutete ihr Gehirn. Sie zerkratzte ihr Gesicht mit den Fingernägeln, doch nichts, was sie in ihrem selbstzerstörerischen Wahn tat, vermochte ihr bewusstes Denken zu erreichen.
Und dann endete es und sie blickte wieder in das Gesicht des Mondscheinmädchens.
„Es ist nicht der Tod, den du fürchten solltest“, sagte sie mit ihrer hallenden Stimme, „sondern das Leben.“
Und wieder veränderte sich ihre Gestalt. Sie wuchs und fiel gleichzeitig in sich zusammen. Ihr jugendliches Gesicht alterte innerhalb weniger Herzschläge um viele Jahrzehnte und schließlich stand eine Gestalt vor Patricia, die so alt zu sein schien wie das Leben selbst. Zitternd und ängstlich an die Wand gedrückt starrte Patricia die Alte an, unfähig sich zu bewegen oder auch nur um Hilfe zu schreien. Doch in diesem Augenblick öffnete sich die Tür und die Erscheinung verblasste, ohne gänzlich zu verschwinden.
Patricia wusste nicht, wer ihr Zimmer betrat. Sie stieg die Treppe hinunter, ohne zu wissen, wohin sie ging. Zwei Wachen führten sie, doch sie nahm sie nur verschwommen wahr. Ihre ganze
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