Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Umgebung verschwand hinter einem grauen Nebel.
Als sie über die Schwelle des Palastes auf die Freitreppe in den Sonnenschein trat, kehrten die Erscheinungen zurück. Dieses Mal waren sie alle da. Toya mit den roten Locken und das Mondscheinmädchen. Sie führten sie über den sich verdunkelnden Schlosshof. Und da war auch die Alte, die Patricia ihre klauenartige Hand entgegenstreckte.
„Komm zu mir!“, sprach sie und ihre Stimme klang wie das Ächzen eines sturmgebeugten, knorrigen Baumes, „nur bei mir findest du Frieden.“
In diesem Moment fiel alle Angst, jede Verzweiflung von Patricia ab. Eine sonderbare Gewissheit, eine Sicherheit, die sie schon lange nicht mehr empfunden hatte, füllte ihre Gedanken. Und so ließ sie alle Schuldgefühle hinter sich und trat auf das ferne Licht hinter der alten, gebeugten Gestalt zu.
Sie sah nicht den Soldaten, der ihre wackeligen Schritte für einen Fluchtversuch hielt, und sie fühlte nicht den Hieb seines Schwertes. Das Letzte, was sie fühlte, war Freude. Die Freude über die Erlösung von ihrer Schuld. Und dann war da nichts mehr …
An diesem ungewöhnlich warmen Vormittag, dem vorletzten in diesem Jahr, entstand ein Aufruhr im Schlosshof. Das aufgeregte Gebrüll mehrerer Stimmen war bis in den Thronsaal zu hören und so überraschte es Julius nicht, dass kurz darauf die Tür aufgerissen wurde und ein junger Soldat in die Halle stürzte. Mit schreckensbleichem Gesicht stolperte er auf den Prinzen zu.
„Mein Herr!“, stammelte er mit überschnappender Stimme. „Kommt schnell! Es ist etwas Furchtbares geschehen.“
Mit einem Stirnrunzeln sah Julius zu Dalinius, der nur mit den Schultern zucken konnte, dann wandte er sich wieder an den jungen Mann, der noch immer entsetzt und zitternd vor ihm stand: „Beruhige dich. Und dann sag mir, was passiert ist.“
„Ein … ein Unfall. Bitte, kommt schnell mit, Herr!“, mit diesen Worten eilte er schon wieder davon.
Langsamer und nun ernsthaft besorgt folgte ihm Julius. Es musste sich etwas wirklich Schreckliches ereignet haben, wenn es einen Soldaten der königlichen Garde so aus der Fassung bringen konnte.
Nachdem Julius den Saal verlassen hatte, sah sich Dalinius nach Elaine um, die am anderen Ende der Halle stand und die Vorbereitungen zur Feier der Wintersonnenwende überwachte. Mit ein paar schnellen Schritten gelangte er an ihre Seite.
„Vielleicht sollten wir auch gehen. Es sieht so aus, als könne er uns beide brauchen.“
Elaine nickte und folgte ihm wortlos. Sie wusste, warum Julius heute den Schlosshof gemieden hatte, obwohl es seine Pflicht gewesen wäre, die Fürsten zu verabschieden. Eugen sollte an diesem Tag Patricia nach Askana bringen und Julius hatte ihr gesagt, dass er noch nicht bereit war, seiner Mutter noch einmal zu begegnen. Zwar waren bereits einige Monate vergangen, doch er hatte nicht akzeptiert, was aus der einstigen Königin geworden war.
Auf der Freitreppe des Palastes holten sie Julius ein, und noch bevor Elaine einen Blick auf die Geschehnisse im Hof werfen konnte, erkannte sie an seinem Gesicht, dass etwas nicht stimmte, dass mehr passiert war als ein bloßer Unfall. Wie erstarrt stand der junge Prinz da und die verschiedensten Emotionen widerspiegelten sich in seiner Miene: Verständnislosigkeit, Unglauben, Entsetzen und langsame Erkenntnis.
Dann sprang er plötzlich vorwärts und Elaine erkannte endlich, was geschehen war.
In der Mitte des Hofes stand ein Soldat, umringt von seinen Kameraden. In der Hand hielt er noch immer ein Schwert mit blutbefleckter Klinge. Und zu seinen Füßen – einen Augenblick lang starrte Elaine mit weit aufgerissenen Augen auf das zerlumpte Etwas in der sich langsam ausbreitenden Blutlache, dann wandte sie sich schaudernd von diesem grausigen Anblick ab – lag regungslos Patricia.
Julius kniete neben seiner Mutter nieder. Einen Moment lang sah er mit leerem Blick in ihr Gesicht. Aber dann schob er das Kinn vor, entschlossen, die Tatsachen zu ignorieren, und brüllte die umstehenden Männer an: „Steht hier nicht so rum! Holt einen Arzt, einen Heiler, irgendjemanden, der ihr helfen kann!“
Die Soldaten wechselten einen ratlosen Blick, aber niemand wagte es, sich Julius zu widersetzen.
„Du! Wie konnte das geschehen?“, zornig trat Julius auf den Soldaten in der Mitte des Kreises zu, der ängstlich ein paar Schritte zurückwich und sein Schwert fallen ließ.
„Ich dachte, sie … sie wolle fliehen. Ich sagte ihr, sie solle stehen
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