Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
ich tun. Auch das sprach sie nicht laut aus, aber Philipus sah deutlich die Entschlossenheit in ihrem schmalen Gesicht.
„Das wird dich umbringen“, flüsterte er.
„Ja“, sie lächelte, nicht bitter oder traurig, sondern warm und sanft. Philipus wandte den Blick ab. Er konnte es nicht fassen, dass sie in diesem Augenblick versuchte, ihn zu trösten. „Vor langer Zeit entschied ich, das Wohl meines Volkes über meine Bedürfnisse zu stellen. Ich habe es nie bereut und ich werde diesen Weg bis zum Ende gehen. Dies war meine Entscheidung, darum quäle dich nicht mit dem Gedanken an das, was unvermeidlich ist.“
Lange Zeit sah er in ihre dunklen Augen und suchte verzweifelt nach Worten. Doch es gab kein Gegenargument, nichts, was er sagen könnte. Schließlich drehte sie sich um und stieg die Treppe hinauf. Philipus wusste, dass sie ihm nicht länger zuhörte. Dennoch, er konnte es nicht akzeptieren.
„Larenia! Du kannst nicht einfach aufgeben! Sicher gibt es eine andere Möglichkeit …“
„Die gibt es nicht“, sie blieb stehen, und als sie weitersprach, schwangen zum ersten Mal Angst und Sorge in ihrer Stimme mit, „bitte sorge dafür, dass Arthenius sich nicht einmischt. Ich würde es nicht ertragen, wenn er sein Leben opfert, um das meine zu retten.“
Sie ging, aber Philipus stand noch lange auf der dunklen Treppe und sah ihr nach. Überdeutlich erinnerte er sich an das sechzehnjährige Mädchen, das den Kandari mit ihrem blinden Idealismus Hoffnung gegeben hatte. Heute war sie weder blind noch idealistisch, doch sie würde alles wagen, um diese Hoffnung am Leben zu erhalten.
Die letzten Tage des Jahres 400 vergingen still, ereignislos und überschattet von düsteren Vorahnungen. Aber Patricia, die einstige Königin von Anoria, merkte von alldem nichts. Für sie war die Zeit vor einem halben Jahr stehen geblieben. Sie wusste nichts von dem Vorrücken der Brochonier oder dem Kriegsrat der Fürsten. Die Welt außerhalb des Zimmers, das zu ihrem Gefängnis geworden war, hatte aufgehört zu existieren. Sie war nie da gewesen. In Patricias Realität gab es keine Erinnerungen, keine Vergangenheit und keine Zukunft. Es gab nur den Augenblick, die flüchtige Gegenwart, und dieses Hier und Jetzt hieß Wahnsinn. In wenigen kurzen Momenten glaubte sie zu wissen, dass sie einst ein anderes Leben geführt, dass sie einen Namen und eine Identität gehabt hatte. Aber die Dunkelheit in ihrem Raum und das tiefe Schweigen verschluckten jeden Gedanken.
Jemand, sie konnte nicht sagen, ob sie es selbst gewesen war, hatte die schweren, dunkelbraunen Samtvorhänge zugezogen. Die einzige Helligkeit stammte von ein paar verirrten Sonnenstrahlen, die durch die kleinen Lücken zwischen den einzelnen Stoffbahnen fielen. Eine Kerze oder Fackel besaß sie nicht.
Die Tage, endlos in ihrer Eintönigkeit und nicht mehr voneinander zu unterscheiden, verbrachte sie zusammengekauert auf dem Boden, die ausgemergelten Arme um die knochigen Knie geschlungen. Sie saß einfach nur da, starrte ins Nichts und wiegte den Oberkörper hin und her. Das einst so schöne rote Haar fiel ihr in verfilzten, grau durchzogenen Strähnen ins Gesicht und ihre Kleidung war kaum noch als solche zu erkennen.
Aber für Patricia gab es keine Einsamkeit und keine Stille, denn sie waren da. Sie waren immer bei ihr und das war schlimmer als es Schweigen oder Verlassenheit je sein könnten. Es gab kein Entkommen, keine Zuflucht. Die einstige Königin sah sie in jedem wachen Augenblick und mit geschlossenen Augen. Sie kontrollierten ihre Gedanken, sie wussten alles und mehr als das.
Und auch jetzt erklang die Stimme und hallte klar und deutlich im Raum wider. Entsetzt presste Patricia die Hände gegen ihre Ohren und versuchte, das Geräusch auszuschließen. Aber es half nicht. Sie waren in ihrem Kopf, sprachen direkt zu ihrem Geist und entfliehen konnte sie nicht. Es begann immer auf die gleiche Weise. Das kaum wahrnehmbare, silbrige Lachen eines Kindes wie das Klingen kleiner, silberner Glöckchen. Dann wurde es lauter, vermischte sich mit einer hohen, kindlichen Stimme, die Abzählreime und Kinderlieder sang.
Mit einem gequälten Stöhnen öffnete Patricia die Augen. Da saß es wieder, das kleine, barfüßige Mädchen, und ließ die Beine baumeln. Das weiße Kleid reichte ihr gerade bis zu den Knien und die Schleifen in ihren roten Locken wippten bei jeder Bewegung auf und ab. Ihre Erscheinung war Patricia inzwischen vertraut, denn die Kleine war
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