Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
bleiben, aber … aber sie hörte nicht auf mich.“ Der junge Mann schlug die Hände vor sein Gesicht und begann, zu schluchzen. Er war jünger als Julius selbst und war erst in diesem Sommer Mitglied der königlichen Garde geworden. Jetzt trat der Anführer der Wache zwischen sie: „Es war ein Unfall, mein Prinz. Timor hat sich genau an seine Befehle gehalten. Er sprach sie drei Mal an, bevor er seine Waffe zog. Jeder meiner Männer hätte so gehandelt.“
Geistesabwesend nickte Julius und wieder breitete sich diese furchtbare Leere auf seinem Gesicht aus. Einen Augenblick später hockte er sich wieder neben Patricia und bettete ihren Kopf in seinen Schoß.
„Wo bleibt denn nur der verdammte Arzt? Ihr könnt sie doch nicht einfach sterben lassen!“, schrie er.
Seufzend kniete Dalinius neben ihm nieder.
„Ihr kann niemand mehr helfen, Julius“, sagte er sehr leise, „Sie ist tot.“
Verständnislos sah Julius seinen Freund an, bevor er sich wieder über Patricia beugte. Nun trat auch Elaine näher und zog sacht an seinem Arm.
„Komm, Julius. Sie hat ihren Frieden gefunden und dein Vater wird dich jetzt brauchen.“
Automatisch, und ohne zu begreifen, was um ihn herum geschah, stand Julius auf und folgte Elaine ins Innere des Palastes. Sofort ging Dalinius zum Hauptmann der Wache und erteilte ihm leise einige Anweisungen, dann führte er den noch immer schluchzenden Soldaten weg.
Julius erzählt:
Diese beiden letzten Tage des Jahres verschwimmen in meiner Erinnerung. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, tat oder empfand. Dalinius und Elaine ließen mich keinen Augenblick aus den Augen. Wahrscheinlich fürchteten sie, ich würde ebenso wie meine Mutter den Verstand verlieren.
Bereits am nächsten Tag, dem Vortag der Wintersonnenwende, begruben wir Patricia. Auch darüber kann ich nur wenig sagen. Doch langsam wich die Leere in meinen Gedanken der Erkenntnis, dass meine Mutter tot war, dass ich sie, diesmal unwiederbringlich, verloren hatte. So schmerzlich das auch klingen mag, nachdem ich es akzeptiert hatte, war ich beinahe erleichtert. Es war, wie Elaine gesagt hatte: Patricia hatte ihren Frieden gefunden und nun konnten auch wir mit der Vergangenheit abschließen. Wenn ich heute zurückdenke, ist es nicht Patricia, die Verräterin mit dem wahnsinnigen Blick, an die ich mich erinnere, sondern meine schöne, liebevolle Mutter, die mich tröstete, in die Arme nahm oder mit mir lachte. Vielleicht hatte diese Frau nur in meiner Einbildung existiert, doch auch heute will ich nicht glauben, dass sie stets intrigant und berechnend gewesen war.
Meine nächste klare Erinnerung ist der Mittwintertag. Dieser Tag galt traditionell dem Gedenken an die Verstorbenen. Doch in der Nacht feierten wir den Neubeginn. Und in jener Nacht gab mein Vater meine Verlobung mit Elaine bekannt.
Soléa hibéria
Der Tag der Wintersonnenwende begann grau, stürmisch und eisig, als wolle der Winter noch einmal mit aller Kraft zuschlagen, bevor er dem Frühling weichen musste. Im ersten Dämmerlicht dieses letzten Tages des Jahres 400 trat Julius aus seinem Zimmer und schloss mit einem schweren Seufzen die Tür hinter sich. In der Nacht würden sie den Beginn des neuen Jahres feiern, doch der Tag gehörte der Erinnerung, dem Gedenken an all jene, die gestorben waren. Diese Tradition war sehr alt und eine der sehr wenigen, die nicht von den Kandari beeinflusst und geprägt worden war. Heute, so schien es Julius, lauerten die Geister jener, die er gekannt hatte und die er nun nie wieder sehen würde, in den Ecken seines Bewusstseins. Manchen hatte er nie besondere Beachtung geschenkt. Jetzt bereute er es, nicht einmal versucht zu haben, sie kennenzulernen. Andere, wie Patricia, hatte er verkannt, weil er sich nie die Zeit genommen hatte, ihre Handlungen, ihre Motive zu hinterfragen. An diesem Tag der Erinnerungen kam es ihm so vor, als wäre er bisher blind durch sein Leben gelaufen, versunken in Selbstsucht, ohne auch nur nach den Wünschen und Vorstellungen anderer zu fragen.
Langsam stieg er die dunkle Treppe hinunter und wanderte durch die finsteren Säulengänge in Richtung Thronsaal. Nicht eine Fackel, keine einzige Kerze brannte, so verlangte es die Tradition. Tief in seine Gedanken versunken und ohne auf seine Schritte zu achten, legte Julius den Weg zurück. Die Gesichter einstiger Freunde stiegen aus den Tiefen seines Gedächtnisses auf, Menschen, an die er schon lange nicht mehr gedacht hatte. An
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