Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Tageslicht auflöst. Dieser Traum jedoch verblasste nicht. Im Gegenteil, er dehnte sich immer weiter aus, bis er jegliche Relation zur Wirklichkeit verlor. Sie wusste nicht, warum sie dieser Gedanke so erschreckte. Für viele Kandari, das hatte sie immer wieder gehört, war der Tod nicht mehr als der nächste Schritt, der Beginn eines neuen Abenteuers oder, im schlimmsten Fall, ein Schritt ins Nichts. Einschlafen und nicht wieder aufwachen, was konnte daran schon so schlimm sein? Trotzdem, dachte Larenia und dabei glitt dieses sonderbare, losgelöst scheinende Lächeln über ihr Gesicht, war es eine traurige Aussicht. Es gab so vieles, das sie in ihrem Leben gern noch erlebt und gesehen hätte. Asana’dra, zum Beispiel, auch wenn es für sie nie mehr sein konnte als ein schöner Traum. Vielleicht war dies auch der wahre Grund, weshalb sie nach Anaiedoro zurückkehren wollte. Ein letzter Blick auf ihre Heimat, was immer das auch wert sein mochte. Denn die Möglichkeit, dass Laurent bereit war, ihnen zu helfen, das wusste sie nur zu genau, war sehr klein, kaum mehr als eine schwache Hoffnung.
In diesem Augenblick hörte sie ihren Namen aus dem Gespräch der anderen heraus. Mit einiger Mühe konzentrierte sie sich wieder auf die Diskussion, die inzwischen zu einer mittelschweren Auseinandersetzung geworden war. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass François anscheinend schon längere Zeit mit ihr sprach und auf irgendeine Antwort zu warten schien. Ohne großes Interesse, worum es eigentlich ging, raffte sie sich zu einer nichtssagenden Kopfbewegung auf. François wirkte weniger zufrieden: „Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?“
Larenia nahm den gereizten Unterton deutlich wahr, also sah sie zu ihm auf und heuchelte Aufmerksamkeit: „Wie bitte?“
Mit zusammengebissenen Zähnen rang François um Geduld. „Ich sagte, dass ihr beide reichlich planlos vorgeht. Wäre es jetzt nicht an der Zeit, uns zu verraten, was du tatsächlich vorhast?“
Sie hob die Augenbrauen: „Das würde ich, wenn ich einen Plan hätte“; aus dem Augenwinkel sah sie Arthenius ein Lächeln unterdrücken, „bisher wissen wir nicht einmal, wie die Bewahrer zu ihrer nahezu grenzenlosen Macht kommen, also, was sollten wir jetzt planen?“
„Aber –“, in diesem Moment öffnete sich die Flügeltür des Thronsaals und die herausströmende, lärmende Menschenmasse bewahrte sie vor weiteren Fragen.
Inzwischen war es früher Nachmittag. Der Sturm hatte sich gelegt, und obwohl es noch immer klirrend kalt war, trat Julius in den Schlosshof hinaus. Mit einem Gefühl unbestimmter Trauer sah er sich auf dem verlassenen Hof um. Nie zuvor war es hier am Mittwintertag so menschenleer gewesen. Normalerweise kamen an diesem Tag die Adligen aus ganz Anoria nach Arida, um den Beginn des neuen Jahres zu feiern. Die bunte Menschenmenge, die Blumen, die einige der reichen Kaufleute in ihren Gewächshäusern züchteten, und die fröhlichen Stimmen fehlten Julius. Ab und zu hörte er den einen oder anderen die Scherze und Glückwünsche aussprechen, die zu diesem Fest gehörten, aber die Ausgelassenheit, die für ihn untrennbar mit der Wintersonnenwende verbunden war, wollte nicht aufkommen. Nun, dachte Julius, das konnte niemanden verwundern. Er zog seinen pelzgefütterten Mantel enger um seine Schultern und stiefelte im Schutz der Palastmauer durch den hohen Schnee.
Er war noch nicht weit gegangen, als er auf Julien traf. Es erstaunte Julius nicht, seinen Vater hier zu finden. Im Gegenteil, beinahe kam es ihm so vor, als hätten sie sich hier verabredet. Der König schien dieses Gefühl zu teilen. Er drehte sich um und sah seinen Sohn nicht im Mindesten überrascht mit einem väterlichen Lächeln an. Dann gingen sie zusammen weiter. Gemeinsam stiegen sie auf die Mauer und blieben schließlich über dem Tor stehen, um auf die Stadt herabzublicken.
Lange Zeit standen sie da, ohne sich um den Frost und den Wind zu kümmern. Der Schnee, der das ganze Land einhüllte, verdeckte die Wunden Aridas und entzog die Trümmer gnädig ihrem Blick, doch das konnte nicht über das Ausmaß des Schadens hinwegtäuschen. Julien seufzte und wandte den Blick vom Hafen, wo die Zerstörung am schlimmsten war, ab. Julius, der das Gefühl hatte, etwas sagen zu müssen, räusperte sich verlegen: „Das war eine sehr schöne Rede.“
Einen Augenblick glaubte er, sein Vater habe ihn nicht gehört, doch dann wandte sich Julien zu ihm um und sah ihn aus müden Augen
Weitere Kostenlose Bücher