Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
zuvor. Denn wie sollte man nach all dem Schmerz wieder lachen? Wie kann die Sonne scheinen, als wäre nichts geschehen, nachdem wir die Unendlichkeit des Leids kennengelernt haben? Gern würde ich euch sagen: Verzweifelt nicht! Oder: Weint nicht! Doch die Wahrheit ist, dass ich euch keine glücklichere Zukunft versprechen kann. Alles, was wir tun können, ist die Erinnerung in unserem Herzen lebendig zu halten. So bitter es scheinen mag, an die einstige Glückseligkeit zurückzudenken. Aber die Bitterkeit wird vergehen. Und die Erinnerung an das, was gut und schön war, kann uns niemand nehmen. Lasst dies unser Licht sein in der Dunkelheit, die noch kommen mag. Und verliert nicht die Hoffnung. Denn dies sage ich euch: Es wird ein neuer Tag kommen. Und es liegt bei uns, was wir mit der Zeit, die uns gegeben ist, anfangen wollen.“
Einen Augenblick lang stand er noch so da, das lebendige Abbild der einstigen Macht und Majestät Anorias, und die gespannte Aufmerksamkeit der Menschen schien an ihn gefesselt zu sein. Dann wandte er sich ab und entzündete die große Kerze, die neben ihm stand. Alles, was es zu sagen gab, hatte er ausgesprochen. Was auch immer kommen mochte, er hatte seinen Teil des Kampfes ausgefochten, seine Pflicht erfüllt.
Zur gleichen Zeit hatten sich die Gildemitglieder im Säulengang vor dem Eingang des Thronsaals versammelt. Sie waren gekommen, um den Beginn des neuen Jahres und Julius’ Verlobung mit den Anorianern zu feiern, doch dieser erste Teil des Tages gehörte den Menschen.
„Drei Tage bis Askana und noch einmal drei bis in das Grenzgebiet zwischen Anoria und Noria Umbara. Zwei weitere, um Merla zu finden, und fünf Tage zur Überquerung des Gebirges. Und dann braucht ihr sicherlich fünf Tage, um durch die Wüste zu kommen“, Felicius zählte die einzelnen Etappen auf der Reise nach Anaiedoro an den Fingern ab. Als er sicher war, keinen Abschnitt vergessen zu haben, blickte er auf und schüttelte den Kopf: „Selbst wenn ihr morgen aufbrecht, werdet ihr Hamada nicht vor Ende des Monats erreichen.“
Die Worte galten Arthenius, der die Aufzählung seines Bruders mit einem leichten Schulterzucken quittierte: „Das lässt sich kaum ändern.“
„Und dabei ist eure Schätzung reichlich optimistisch“, ließ sich Philipus vernehmen und seine Stimme klang sehr skeptisch, „du vergisst die Schneestürme, Lawinen, Sandstürme und die Wächter, die ihr auf eurem Weg umgehen müsst. Und das ist nur ein kleiner Teil der Schwierigkeiten, mit denen ihr rechnen müsst.“
„Selbst wenn ihr so weit kommt, was wollt ihr unternehmen?“, zynisch und verächtlich blickte François in die Runde. „Ihr könnt schließlich nicht zu Laurent gehen und sagen: ‚Hey, wie geht’s? Übrigens, könntest du deine Armee vorbeischicken, wir brauchen da mal etwas Unterstützung.‘ Ich hoffe, das ist euch beiden klar.“
Arthenius murmelte eine unbestimmte Antwort, aber Larenia, die bisher schweigend danebengestanden hatte, hörte nicht länger zu. Ihre Gedanken schweiften ab.
Wie jedes Jahr erschien ihr der Tag der Wintersonnenwende hier in Anoria sehr sonderbar. Sicher, auch die Kandari feierten den Beginn des neuen Jahres, aber wozu die Menschen einen ganzen Tag brauchten, um in ihren Erinnerungen zu schwelgen und an die Endlichkeit des Lebens zu denken, war ihr stets unbegreiflich gewesen. Warum nur verbrachten sie einen großen Teil ihrer Zeit damit, sich mit dem Tod, der ja für jeden unvermeidlich war, auseinanderzusetzen, anstatt einfach zu leben? Die kurzen Jahre, welche die Menschen auf der Welt verbrachten, ließen sich sicherlich angenehmer verbringen als mit dem Gedanken an ihr Ende. Die Kandari betrachteten Leben und Tod aus einem anderen Blickwinkel. Zunächst einmal war ihr Leben um vieles länger als das der Menschen. Larenia selbst lebte seit dreihunderteinundsechzig Jahren und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie alt zu nennen. Natürlich waren auch die Kandari nicht unsterblich. Sie konnten an Krankheiten sterben, durch Gewalt oder weil sie des Lebens müde oder überdrüssig waren. Diese ewige Angst vor dem Unbekannten, dem Ende der eigenen Existenz kannten sie nicht. Aber jetzt begann Larenia, es zu verstehen. In vier oder fünf Monaten würde die Welt noch immer die gleiche sein, soweit das möglich war, doch sie selbst würde nicht mehr da sein. Dieser Gedanke erschien ihr so absurd und weit weg, unwirklich wie ein Albtraum, ein Schatten in der Nacht, der sich im
Weitere Kostenlose Bücher