Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Bitte jetzt erfüllte.
Rowena drehte sich auf die Seite und strich sehnsüchtig über das Kissen neben ihr. Bald würde sie noch einsamer sein. Sie wusste, Norvan, Pierre und Collyn würden mit allen anderen Mitgliedern des Untergrundes nach Anoria in den Krieg ziehen. Pierre hatte lange darüber nachgedacht, wie er sich unter die brochonischen Soldaten mischen konnte. Schließlich hatte Rowena ihm geholfen, sein rotblondes Haar schwarz zu färben und Collyn hatte ihn im Eiltempo zum Offizier befördert. Niemand würde in ihm jetzt den entflohenen Gefangenen aus Andra’graco erkennen. Manchmal erschreckte es sie selbst, wie perfekt er den brochonischen Soldaten spielte. Und bald würde er in seine Heimat zurückkehren. Sie alle würden gehen und Rowena würde allein zurückbleiben, einsam und verlassen inmitten einer Gesellschaft, die sie verabscheute und der sie doch, wie ihr ganzes Volk, hilflos gegenüberstand. Voll ohnmächtiger Wut krallte sie ihre Hand in den Stoff der Bettdecke. Warum nur blieb ihr nie etwas anderes übrig, als abzuwarten und auf die Fähigkeiten anderer zu vertrauen? Immer war jemand da, der sie beschützte, und selbst dann ließ man sie bestenfalls eine Botschaft überbringen oder die Wachen ablenken. Sie wünschte sich nichts mehr, als kämpfen zu dürfen, nicht mehr vom guten Willen anderer abhängig zu sein und endlich über ihr Schicksal selbst entscheiden zu können. Und das würde sie. Warum sollte ihr das, was Pierre geschafft hatte, nicht auch gelingen?
Entschlossen sprang sie auf und stellte sich vor den Spiegel. Nachdenklich betrachtete sie ihr Spiegelbild und endlich blieb ihr Blick an ihrem hübschen Gesicht mit den weichen, sehr zart und mädchenhaft wirkenden Zügen, den vollen Lippen und den schönen, dunkelbraunen Augen unter langen, schwarzen Wimpern hängen. Seufzend strich sie sich durch die langen Locken. Vielleicht war es doch nicht so einfach, wie sie geglaubt hatte. Als Frau würde sie nicht einmal in die Nähe der Armee kommen, aber das Heer war ihre einzige Möglichkeit, nach Anoria zu gelangen. Trübsinnig starrte sie ihr Antlitz im Spiegel an. Dann strich sie, einem plötzlichen Einfall folgend, ihr Haar zurück. Vielleicht, mit kurzem Haar und wenn sie möglichst dreckig und zerlumpt aussah … Sie würde weite Kleider tragen, die ihre Figur verhüllten. Natürlich würde sie jünger wirken, aber das konnte ihr recht sein. Sie war nicht besonders groß. und egal wie sehr sie sich bemühte, ihre Stimme würde zu hoch sein. Aber das störte mit Sicherheit niemanden.
Ärgerlich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte diesen Einfall unmöglich in die Tat umsetzen. Sie müsste ein Doppelleben führen und das konnte sie unter dem wachsamen Blick ihres Onkels nicht. Weder Pierre noch Norvan hätten Verständnis für sie, da war sie sich sicher. Sie beide kämpften, weil ihnen keine andere Wahl blieb, weil es das Einzige war, was sie tun konnten, und weil es niemanden gab, der sie beschützen würde. Aber Rowena hatte die Wahl und keiner der beiden würde ihre Entscheidung verstehen.
Abrupt wandte sie sich ab und kroch wieder unter ihre Bettdecke. Sie konnte nichts tun, sagte sie sich, das war immer so gewesen und würde auch in Zukunft so bleiben. Doch irgendwo, tief vergraben unter dieser Einsicht, rebellierte etwas in ihr gegen ihre Resignation.
Es war schon sehr spät, als Larenia und Arthenius am achten Tag ihrer Reise ihre Wanderung unterbrachen. In den letzten drei Tagen hatten sie zu Fuß das Vorgebirge überquert und heute hatten sie jenen Teil von Noria Umbara erreicht, der Julius damals so beeindruckt hatte. Sie hatten ihre Pferde in Skayé zurückgelassen, denn das Gelände war hier sehr unwegsam und würde noch schwieriger werden am Pass des Hochgebirges und in der Wüste von Hamada. Es war wieder kälter geworden und seit dem Morgen vor drei Tagen schneite es.
Jetzt blieb Larenia stehen. Sie schüttelte den Schnee von ihrem Mantel und strich sich das nasse, vereiste Haar aus dem Gesicht. Arthenius, der vorausging und versuchte, einen Weg durch die hohen Schneewehen zu bahnen, stolperte noch ein Stück weiter, bevor er bemerkte, dass sie ihm nicht mehr folgte. Erstaunt sah er sich um. Hier, inmitten des Waldes, war es so dunkel, dass er kaum etwas erkennen konnte. Aber noch während er suchend um sich blickte, fühlte er ihre Hand auf seiner rechten Schulter und dann erklang ihre leise Stimme neben ihm: „Jemand verfolgt uns.“
Angestrengt starrte
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