Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
setzte sich neben Zora. „Und wenn wir gerade beim Thema sind, lass uns über die Organisation sprechen. Und vielleicht solltest du dich wieder setzen.“
Norvan knirschte mit den Zähnen, ließ sich aber wieder auf seinen Stuhl fallen. Wenn er mit Pierre sprach, hatte er stets das Gefühl, überrannt zu werden. Seine Art, seine Meinung, seine Ideen darzulegen, duldete keinen Widerspruch und Norvan stand dem entschiedenen Verhalten des Kandari hilflos gegenüber. Die Selbstverständlichkeit, mit der er die Führung übernahm, verwirrte den jungen Brochonier. Seit dem Tod seines Vaters war er für alles verantwortlich gewesen. Für den Widerstand, obwohl die wenigsten wussten, dass er die treibende Kraft des Untergrundes war, die Tarnung und Geheimhaltung, die durch das wachsende Misstrauen seines Onkels immer schwieriger wurde, und für das Wohlergehen seiner kleinen Schwester. Nun war da Pierre, der sich um alles kümmerte. Und plötzlich bestand tatsächlich Hoffnung, die Terrorherrschaft der Druiden und des Militärs zu beenden. Selbst Rowena schien seine Gesellschaft der ihres Bruders vorzuziehen. Eigentlich war Norvan froh darüber, die Verantwortung teilen zu können. Nur wirkte Pierre absolut nicht wie einer der übermächtigen Kandari und Norvan sah ihn noch immer als gequälten Gefangenen vor sich. Der Rollenwechsel war einfach zu schnell gegangen.
Schließlich, als das Schweigen sich in die Länge zog, flüchtete Norvan sich in ein nichtssagendes Schulterzucken: „Was willst du wissen?“, er wartete keine Antwort ab, sondern begann in sachlichem Ton zu erklären: „Neben Butrok gibt es elf Städte, die für uns von Bedeutung sind. In jeder von ihnen gibt es mehrere Gruppen von sechs bis acht Menschen und ihre Anführer treffen sich regelmäßig, um ihre Aktionen zu koordinieren. Ein landesweites Treffen der Anführer des Untergrundes hat es erst ein oder zwei Mal gegeben und niemand außerhalb von Butrok weiß von Rowenas und meiner Beteiligung“, er lachte leise und zynisch, „sie alle kennen nur ihre Kontaktpersonen ebenso wie ich oder Zora oder Collyn. Niemand weiß genug, um den anderen zu schaden. Misstrauen und Geheimhaltung sind unsere einzigen Freunde.“
„Was habt ihr bisher unternommen?“, fragte Pierre, ohne auf den bitteren Tonfall des Brochoniers einzugehen.
Es war Collyn, der ihm antwortete: „Für große Kämpfe und Revolten sind wir zu wenige und uns fehlen die Mittel. So sammeln wir Informationen und versuchen, im Kleinen zu helfen. So wie damals, als wir den Flüchtlingen aus Dalane die Flucht ermöglichten.“
Pierre nickte langsam. Lange Zeit hüllte er sich in nachdenkliches Schweigen, dann wandte er sich wieder an Norvan: „Bisher war euer Vorgehen gut und richtig, aber wenn wir jetzt etwas Wirkungsvolles tun wollen, müssen wir anders handeln. Könnt ihr die anderen Anführer benachrichtigen?“
Norvan sah mit fragend hochgezogenen Augenbrauen an ihm vorbei zu Zora, die langsam nickte: „Möglich ist es, aber es wird eine Weile dauern und wir gehen ein großes Risiko ein. Einen Reiter können wir nicht schicken und auch die Brieftauben werden überwacht. Darum benutzen wir Falken, die in Laprak sehr häufig sind“, fügte sie erklärend hinzu.
„Dann teilt ihnen mit, dass wir uns am ersten Tag des nächsten Monats hier treffen werden“, geflissentlich übersah Pierre den Schreck und die Angst in den Gesichtern der anderen, „nur so können wir unser weiteres Vorgehen planen.“
Mit einem leicht verärgert wirkenden Stirnrunzeln sah Norvan ihn an: „Und was genau hast du vor?“
Pierre lachte: „Warte es ab. Misstrauen und Geheimhaltung, du erinnerst dich?“
Einen Moment lang starrte Norvan ihn wütend an, aber dann gab er es auf. Er konnte Pierres Motive verstehen, wahrscheinlich hätte er selbst nicht anders gehandelt. So verabschiedete er sich nach kurzer Zeit und kehrte gemeinsam mit Rowena in den Palast zurück.
In dieser Nacht lag Rowena lange schlaflos in ihrem Bett und starrte die Zimmerdecke an. Pierre fehlte ihr. Seit über einem Monat kam er nur noch selten in den Palast. Es tat ihr sehr leid, denn in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft, nicht einmal ein halbes Jahr, hatte sie sich an ihn, seine ständige Gegenwart, dieses Gefühl der Wärme, Zuneigung und Vertrautheit gewöhnt und ihre Umgebung erschien ihr ohne ihn kälter denn je. Dabei hatte sie selbst ihn gebeten, dem Widerstand zu helfen. Sie konnte sich nicht beschweren, dass er ihre
Weitere Kostenlose Bücher