Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
nicht, warum ich überhaupt hier bin. Niemand kann mich zwingen.“
Diese letzten Worte murmelte sie sehr leise, mehr im Selbstgespräch als an Larenia und Arthenius gewandt. Sie war nicht so wütend, wie sie erscheinen wollte, zumindest nicht auf Larenia. Aber sie hatte wirklich sehr viel gewagt, und obwohl sie es nicht gern zugab, fürchtete sie die Macht der Bewahrer, den freien Willen des Einzelnen auszuschalten und jede Handlung zu kontrollieren. Es erschreckte sie, dass sie die gleichen Fähigkeiten jetzt bei Larenia erkannte. Merla hatte immer geglaubt, sie wäre anders. Jetzt jedoch sah sie die gleiche Kompromisslosigkeit, die gleiche Kälte und zum ersten Mal hatte sie Angst in ihrer Nähe.
„Uns bindet der gleiche Eid“, leise und sanft klang Larenias Stimme in der Stille, „wir haben beide Treue geschworen.“
„Und du wagst es, mir diesen Schwur vorzuhalten?“, zornig trat Merla auf sie zu. „Ausgerechnet du?“
„Es reicht!“, ruhig und befehlsgewohnt unterbrach Arthenius ihr Gespräch, „es hat keinen Sinn, sie zu reizen, Merla.“
Ungehalten funkelte Merla ihn an, doch dann beherrschte sie sich. Kritisch musterte sie die beiden, dann schüttelte sie in gespielter Verzweiflung den Kopf: „So wie ihr ausseht, kommt ihr nicht einmal in die Nähe von Anaiedoro.“
Sie wandte sich ab und ging in den hinteren Teil der Höhle.
„Hier“, schwungvoll warf sie Larenia eins der Bündel zu, „zieh deine nassen Sachen aus –“
„Wie bitte?“
Mit einem breiten Grinsen sah Merla sie an: „Lass mich doch aussprechen. Zieh das hier an“, sie deutete auf die zusammengerollten Kleider, „oder willst du erfrieren?“
Larenia zuckte mit den Schultern und stand auf. Wasser tropfte aus ihrem Haar und von ihrem Mantel.
„Für dich gilt übrigens das Gleiche, Arthenius. Also höre auf, sie anzustarren.“
Merla schleuderte auch ihm ein Paket zu, dann trat sie ins Freie. Es schneite noch immer und es war stürmischer geworden.
Nachdenklich schaute Merla über die verschneite Landschaft. Es würde sehr schwer sein, den Gebirgspass zu überqueren. Niemand wagte sich auf diesen Weg im Winter, wenn es nicht unbedingt sein musste. Wie sie es schaffen sollten, ohne Larenias unglaubliche Kräfte nutzen zu können, wusste sie nicht. Dabei war dies der einfachste Teil ihrer Reise.
Plötzlich hörte sie das leise Knirschen des Schnees hinter sich. Erschrocken fuhr sie herum, doch dann blinzelte sie erstaunt, als sie Larenia, nicht länger im Weiß der Gilde, sondern in der sandfarbenen Kleidung der Wüstenbewohner, hinter sich stehen sah. Prüfend musterte sie sie von Kopf bis Fuß.
„Jeder, der dich auch nur ein einziges Mal gesehen hat, wird dich erkennen“, sie seufzte tief, „aber vielleicht nicht auf den ersten Blick, solange du niemanden direkt ansiehst. Mit diesem Haar und diesen Augen hast du allerdings keine Chance, lange unentdeckt zu bleiben.“
Larenia zuckte mit den Schultern: „Wahrscheinlich nicht. Es ist nicht wichtig, denn das Versteckspiel ist vorbei.“
Noch während sie sprach, kehrte Merlas Unruhe zurück. Ohne erklären zu können, warum, hatte sie das Gefühl, dass dieses Unternehmen nicht gut enden konnte.
„Wo willst du hin?“
Larenia war an ihr vorbei in den immer dichter fallenden Schnee getreten. Jetzt drehte sie sich um und zog die Augenbrauen hoch: „Du hast es selbst gesagt: Es ist ein weiter Weg.“
Entschiedenes Kopfschütteln antwortete ihr: „Aber nicht in diesem Schneesturm, wir würden nicht weit kommen. Es ist ohnehin Wahnsinn, den Pass im Winter überqueren zu wollen.“
„Ja, das ist es wohl“, mit einem traurigen, gedankenverlorenen Lächeln sah Larenia an ihr vorbei, dann aber änderte sich ihr Gesichtsausdruck, wurde wieder hart und ausdruckslos. Schnell und leichtfüßig lief sie in den Sturm hinaus.
Merla sah ihr lange nach. Sie war sich sicher, dass Larenia nicht nur ihren Weg durch das Gebirge gemeint hatte, doch sie wagte es nicht, über die Bedeutung ihrer Worte nachzudenken. Fröstelnd zog sie ihren Mantel enger um ihre Schultern. Sie warf noch einen Blick in die Richtung, in die Larenia gegangen war. Merla kannte sie und wusste, dass sie einfach nicht untätig dasitzen und abwarten konnte. Spätestens am Nachmittag würde die Gildeherrin zurückkommen, da war sie sich sicher. So kehrte sie in den Schutz der Höhle zurück.
Hier traf sie auf Arthenius, der still und gelassen an den Felsen gelehnt dasaß und ins Leere starrte. Er sah
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