Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
königlichen Garde und fünfhundert Mann aus Ariana zurück, um die Stadt zu verteidigen. Darauf hatte Julien bestanden, denn, so behauptete er, es hatte keinen Sinn, das Leben der Fischer, Bauern und Handwerker, die für ihre Heimat kämpfen wollten, zu riskieren. Zudem bestand keine Hoffnung, Arida zu retten. Sie konnten den Menschen in Askana, Larenia, Arthenius und den Kandari nur etwas Zeit verschaffen, genug Zeit vielleicht, um diesen aussichtslos scheinenden Kampf zu gewinnen. Seitdem wurde die Stimmung immer bedrückter. Mit jedem Tag des ängstlichen Abwartens, der verging, breitete sich die stille Hoffnungslosigkeit weiter aus. Noch immer glaubten viele an die Macht der Kandari, und wann immer sie einem der Gildemitglieder begegneten, fassten sie neuen Mut. Aber es war stets nur ein kurzes Aufflackern, das nie von Dauer war.
Das Bild in Butrok unterschied sich deutlich von der Situation in Anoria. Sobald das neue Jahr anfing und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen die winterliche Wolkendecke durchbrachen, begann Baruk, seine Armee, die in ganz Laprak verstreut war, in den Küstenstädten zu sammeln. Jeder, der eine Waffe halten konnte, wurde rekrutiert und bald glichen die Hafenstädte einem Heerlager. Bei ihren ersten Angriffen hatten die Brochonier ihre Gegner nicht ernst genommen. Diese Einstellung hatte sich jetzt geändert, und sobald ihre Vorbereitungen abgeschlossen und die Wege frei waren, würden sie erbarmungslos und mit aller Kraft zuschlagen. Diese mit Gewalt vorangetriebene Aufrüstung brachte Pierre und den brochonischen Widerstand in eine schwierige Situation. Zwar hatten die Druiden die Verfolgung Andersdenkender eingestellt, aber niemand wusste, wie viel Zeit ihnen noch blieb. Aus diesem Grund trafen sich am siebenten Tag des Monats Norvan, Rowena und Zora in deren kleinem Haus am Rand der Stadt. Noch immer war dies die inoffizielle Zentrale der Rebellen, wenn auch der Platz schon lange nicht mehr für alle reichte. Und Zora war die Einzige, die das tägliche Kommen und Gehen überblickte. Darum saß sie jetzt auch mit den Geschwistern im Wohnzimmer ihres Hauses. Zumindest hatten sie bis zu diesem Augenblick gesessen. Jetzt sprang Norvan auf und begann, nervös auf und ab zu laufen. Sie hatten sich am Vormittag mit Collyn verabredet. Inzwischen war es Nachmittag und noch immer hatte er sich nicht blicken lassen. Auch Pierre, den sie ebenfalls erwarteten, hatte niemand mehr seit mindestens zehn Tagen gesehen.
„Und du bist sicher, dass sie die Nachricht erhalten haben?“, unruhig wandte Norvan sich an seine Schwester, die ihm mit einem wortlosen Nicken antwortete.
„Und du hast ihnen auch das richtige Datum gesagt?“
Empört sah Rowena ihn an: „Natürlich! Vielleicht wurden sie auf dem Weg aufgehalten.“
„Aufgehalten!“, rief er gereizt, „ich bin durch die halbe Stadt gerannt, um mögliche Verfolger abzuschütteln, und habe es trotzdem pünktlich geschafft.“
Rowena reagierte mit einem nichtssagenden Schulterzucken. Sie konnte Norvan verstehen. Ihr Onkel ließ ihn schärfer denn je beobachten und er musste sehr vorsichtig sein, wollte er nicht ihrer aller Leben riskieren. Allerdings belastete sie seine von Tag zu Tag missmutiger werdende Stimmung und sie war froh, dass ihr eine Antwort erspart blieb, denn in diesem Augenblick flog die Tür auf und Collyn betrat lautstark den Raum. Einen Moment lang sah Norvan ihn erleichtert an, doch sein Misstrauen kehrte sofort zurück, als er den jungen, schwarzhaarigen Mann bemerkte, der Collyn begleitete. Der Fremde trug die dunkle Uniform eines Offiziers der Armee und blickte ruhig und überlegen in die Runde. Norvan musterte ihn forschend. Er sah in das schmale, durchaus sympathische Gesicht des Unbekannten mit den auffälligen blauen Augen und er hatte das Gefühl, er müsse diesen Mann kennen. Doch sosehr er auch überlegte, ihm wollte nicht einfallen, wo er ihn schon einmal gesehen hatte. Erst als er Rowenas strahlendes Lächeln aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, wusste er, wen er vor sich hatte.
„Hallo, Pierre“, die kühle Miene des Kandari wich bei seiner Begrüßung einem amüsierten Grinsen. Aber Norvan runzelte missbilligend die Stirn: „Findest du das nicht etwas übertrieben?“, dabei deutete er auf Pierres schwarz gefärbtes Haar und die Uniform.
„Hast du eine bessere Idee, wie man gleichzeitig unerkannt bleiben und einen sinnvollen Widerstand organisieren kann?“, gelassen zuckte er mit den Schultern und
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