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Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Kandari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tracy Schoch
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um. Bisher schenkte ihr niemand einen zweiten Blick, dennoch wagte sie es nicht, einem der Passanten direkt in die Augen zu schauen. Ihre Verkleidung, bestehend aus einigen zusammengewürfelten Kleidungsstücken aus dem Schrank ihres Bruders, war recht fadenscheinig und würde keiner genauen Betrachtung standhalten. Dazu waren Stiefel und Hose, auch wenn sie abgetragen wirkten, zu kostbar, um zu ihrem Mantel zu passen, und außerdem war ihr jedes einzelne Stück viel zu groß. Ihr langes Haar hatte sie unter eine wollene Mütze, die dem Sohn ihrer Zofe gehörte, gestopft und eine dicke Schmutzschicht sollte ihre helle Haut und ihre weichen, mädchenhaften Gesichtszüge verbergen. Noch heute Morgen war sie sich in ihrem Kostüm sehr glaubhaft und überzeugend vorgekommen, doch jetzt war sie sich nicht mehr sicher.
    Vielleicht war es wirklich eine dumme Idee gewesen. Wie konnte sie sich nur einbilden, dass sie sich als Junge verkleidet in die Armee einschleichen und auf diese Weise nach Anoria gelangen konnte, und das, ohne dass es jemandem auffiel. Aber der Gedanke hatte sie nicht mehr losgelassen. Seit dem Treffen mit Pierre und Collyn vor zehn Tagen hatte sie die Menschen auf den Straßen genauer beobachtet. Sie hatte versucht, ihre Haltung, ihren Gang und ihren Dialekt nachzuahmen, und als sie das alles beherrschte, hatte sie die notwendigen Kleidungsstücke zusammengesucht. Nun wollte sie ausprobieren, wie glaubhaft sie als Straßenjunge sein konnte.
    Allerdings begann sie jetzt, da sie allein im Schatten der Palastmauer stand, zu zweifeln. Noch kümmerte sich niemand um sie, doch bald würden die Wachen hier auftauchen und sie wegjagen. Oder sie würden sie erkennen und zu ihrem Onkel schleppen. Und dann musste sie ihm und den Druiden erklären, was sie vorgehabt hatte. Damit riskierte sie nicht nur ihr Leben, sondern sie gefährdete auch alle Mitglieder des Untergrundes. Noch konnte sie umkehren.
    Aber dann rannte sie los. Sie lief durch die breiten Straßen, huschte über den riesigen Platz vor dem Haupteingang des Palastes und verschwand im Schatten einer kleinen Gasse. Hatte sie sich nicht gewünscht, endlich etwas tun zu können? Sie war es sich schuldig, es zumindest auszuprobieren. Eine bessere Gelegenheit würde sie nicht bekommen. Wenn sie den Menschen auf der Straße nicht auffiel, wusste sie, dass es möglich war. Dann würde es ihr auch gelingen, in die Armee aufgenommen zu werden.
    Rowena zog ihre Mütze tiefer ins Gesicht und ging in Richtung Markt. Zu dieser Tageszeit wimmelte es dort von Menschen und sie konnte problemlos in der Masse untertauchen. Während sie durch die Straßen lief, verlor sie allmählich ihre Scheu. Niemand schien über ihren Anblick erstaunt zu sein und niemand vermutete auch nur die Nichte des Herrschers von Laprak in dem kleinen, schmutzigen und zerlumpt aussehenden Jungen. Gemächlich schlenderte Rowena durch die Reihen der Marktstände, betrachtete die Auslagen und beobachtete die Menschen. Jeder ging seinen alltäglichen Geschäften nach und alles wirkte normal. Zu normal, dachte sie, denn sie sah die furchtsamen Gesichter, die hastig niedergeschlagenen Augen, wann immer ein Beamter oder Offizier vorbeikam. Und sie hörte die geflüsterten Unterhaltungen, die abgebrochenen Gespräche. Die Menschen hatten Angst, mehr denn je, und sie glaubten nicht mehr an die Propaganda der Druiden, noch vertrauten sie blind auf einen schnellen Sieg in diesem Krieg. Dennoch wagten sie nicht, offen zu rebellieren. Rowena bemerkte all das, als sie sich aus der Menschenmenge, die sich träge von Stand zu Stand wälzte, wand und mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, die Haltung, die sie mühevoll geübt hatte, in eine kleine Seitenstraße eilte. Hier blieb sie stehen.
    „He, Kleiner!“
    Es dauerte eine Weile, bis Rowena begriff, dass sie gemeint war. Langsam drehte sie sich um, doch selbst jetzt brauchte sie einen Augenblick, um zu erkennen, woher die Stimme kam. Hinter ihr lehnte ein alter Mann an der Hauswand und betrachtete sie interessiert aus seinen grauen Augen.
    „Ja, dich meine ich“, knarrte er mit seiner rostigen Stimme, als sich ihre Blicke begegneten, und seine Augenbrauen schienen sich bei jedem Wort zu sträuben. Er verließ seinen Platz an der Hauswand und humpelte auf Rowena zu. Dabei bereitete ihm das Gehen auf dem eisglatten Grund sichtbar Schwierigkeiten. Als er schließlich vor ihr stand, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf und blickte auf Rowena

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