Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
in der Mitte der Stadt erhob sich groß und majestätisch das Schloss, das Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit, eines Zeitalters, in dem die Kandari ganz Metargia beherrscht hatten.
„Bevor du dich in Erinnerungen verlierst“, Merla war wieder näher gekommen, allerdings hatte sie sich einen sicheren Platz neben Arthenius gesucht, „was hast du jetzt vor? An wen willst du dich wenden?“
Larenia hob die Schultern und begann, bergab zu gehen: „Darüber denke ich schon den ganzen Tag nach, doch außer Sibelius fällt mir niemand ein.“
„Und deshalb bist du derart schreckhaft? Du hast in den letzten Jahren eindeutig zu viel Zeit mit Pierre verbracht“, kopfschüttelnd sah Merla an Arthenius vorbei, begegnete dem ironischen Blick der Gildeherrin und grinste, bevor sie wieder ernst wurde, „aber warum wirkst du so unzufrieden? Sibelius ist Heerführer und er hat dich sehr gern. Ich könnte mir schlechtere Unterstützung vorstellen.“
„Vielleicht, aber er mischt sich grundsätzlich in nichts ein und schon gar nicht in einen Konflikt, der beinahe dreihundert Jahre alt ist.“
Normalerweise wusste Larenia sehr genau, was sie von ihren Verbündeten erwarten und wie sie ihre Ziele erreichen konnte, aber jetzt zweifelte Merla an dieser Fähigkeit. Jedoch hielt sie es im Augenblick für das Klügste, nichts mehr zu sagen.
Inzwischen hatten sie die ersten Häuser erreicht und Merlas Nervosität kehrte schlagartig zurück. Es war so dunkel, dass sie ihre Umgebung nur erahnen konnten, und außerdem war es beinahe unheimlich ruhig trotz des Wüstenwindes. Niemand zeigte sich auf den schmalen Straßen und selbst das Geräusch ihrer Schritte wurde von der dicken Sandschicht, welche die gepflasterte Straße bedeckte, verschluckt.
„Das wollte ich dich schon lange fragen, Merla. Was ist eigentlich mit Anila geschehen?“
Erschrocken fuhr Merla bei dem Klang von Arthenius’ Stimme zusammen und blickte verstört um sich. Die Fenster und Türen in dieser Straße waren verriegelt und nichts bewegte sich, dennoch stand sie einen Moment lang mit angehaltenem Atem und wie erstarrt da, bevor sie antwortete: „Sprich hier nicht über Anila. Ich werde es euch später erzählen. Und jetzt seid still und folgt mir!“
Lautlos liefen sie durch die Dunkelheit, ohne einem anderen Lebewesen zu begegnen außer einem Straßenhund und zwei Soldaten, die sichtbar gelangweilt vor dem Schloss standen und sich hauptsächlich für das Ende ihrer Wache interessierten. Schließlich erreichten sie die andere Seite der Stadt und blieben vor einem großen Anwesen mit einem gepflegten Garten stehen. Der Duft von Erde und Wasser, von blühenden Pflanzen wehte ihnen entgegen. Dieser Geruch wirkte sonderbar und fremdartig inmitten des staubigen, trockenen Landes, beinahe störend. Doch es passte zu Sibelius und seinem Ruf als Sonderling, denn dies war sein Haus. Entgegen der Gewohnheit der anderen Bewohner Anaiedoros hatte er darauf verzichtet, Fenster und Türen bei Einbruch der Dunkelheit zu verriegeln. Sein Gartentor stand offen und auch die Haustür schien nur angelehnt zu sein. Allerdings gehörte Sibelius, der oberste Heerführer der Kandari, zu den wenigen, die weder von den Bewahrern noch vom König oder der Bevölkerung etwas zu befürchten hatten.
Warmes, rötliches Licht schien durch die Fenster und beleuchtete den Weg, der vom Gartentor zum Eingang führte.
„Also wirklich“, murmelte Merla, als sie nach kurzem Zögern hinter Larenia und Arthenius das Grundstück betrat und das Tor hinter sich schloss, „man kann es auch übertreiben mit der Darstellung seiner Absonderlichkeit.“
Kaum hatte sie ausgesprochen, wurde die Haustür aufgerissen und Larenia blieb abrupt stehen. Eine große, dunkle Gestalt erschien im Türrahmen und füllte ihn nahezu vollständig aus. Für den Bruchteil eines Augenblicks, die Dauer eines Herzschlages standen sie sich schweigend gegenüber. Unbemerkt von den anderen spannte Merla ihren Bogen und aus dem Augenwinkel heraus bemerkte sie, dass auch Arthenius unwillkürlich seine Hand auf den Griff seines Schwertes legte. Sibelius war einer der besten Kämpfer in ganz Metargia und sollte er sich entscheiden, sie anzugreifen, wären sie selbst zu dritt hoffnungslos unterlegen. Die Einzige, die ruhig und gelassen blieb, war Larenia.
„Lari!“, brüllte plötzlich der Schatten mit unüberhörbarer Begeisterung und sprang auf sie zu. „Ich wusste, dass du irgendwann hier auftauchen
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