Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
letzten Blick über die Schulter zu und begann, mit kleinen, vorsichtigen Schritten bergab zu gehen. Aber Arthenius’ Augen hingen noch lange an ihrer schlanken Gestalt. Erst als Merla, die unbemerkt neben ihn getreten war, ihm auf die Schulter klopfte, riss er sich von ihrem Anblick los.
„Wenn du mich fragst …“, ihre kühle, tiefe Stimme klang amüsiert, und als Arthenius sie voll Ironie und mit hochgezogenen Augenbrauen ansah, lächelte sie, „ich weiß, dass du das nicht vorhattest. Aber sie hat recht. Von allein werden ihr die Kandari nicht folgen, im Gegenteil. Sie werden Larenia misstrauisch beobachten und abwarten. Im besten Fall werden sie gar nichts tun und darauf hoffen, dass sich ihr Loyalitätskonflikt von allein löst. Es könnte auch zu einem neuen Aufstand kommen“, sie zuckte mit den Schultern, „du siehst, Larenia handelt sehr klug, wenn sie keine neuen Kämpfe provozieren will.“
„Ich möchte auch keine neue Rebellion herausfordern“, sein Gesichtsausdruck verhärtete sich, „aber ich werde nicht allein auf Laurent und seine Unentschlossenheit vertrauen.“
„Nicht, wenn Larenias Schicksal davon abhängt. Das wolltest du doch sagen?“, sie ignorierte seinen abweisenden Blick. „Du würdest alles für sie tun, oder?“
„Ich will nur vermeiden, dass sie sich zu sehr auf diesen Plan fixiert und dabei alle anderen Möglichkeiten übersieht.“
Diese Worte sprach er beinahe widerwillig aus. Es war offensichtlich, dass er sich sehr unbehaglich dabei fühlte. Merla lächelte: „Mir musst du nichts erklären. Ich gebe dir völlig recht. Aus irgendeinem Grund wollte sie von diesem Teil ihrer Macht nie etwas wissen, weder damals noch heute. Es ist nur gut, wenn sie jemand darauf hinweist. Aber das meinte ich nicht“, lange und forschend sah sie ihn an, dann schüttelte sie langsam den Kopf, „du liebst sie viel zu sehr.“
Seufzend folgte Arthenius ihr, als sie weiterging. Es schien ein Komplott unter seinen Freunden zu existieren, ihm das Offensichtliche möglichst oft mitzuteilen.
Sie holten Larenia schnell ein und Merla übernahm wieder die Führung. Allerdings kamen sie an diesem Tag nicht weit. Das letzte Tageslicht verblasste bereits, als sie den Pass verließen. Zwar drängte Merla sie zur Eile, doch sie selbst setzte nur zögernd einen Fuß vor den anderen. Sie kannte den Weg gut und es war nicht das erste Mal, dass sie trotz Verbannung in ihre Heimat zurückkehrte. Doch dieses Mal war das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, viel stärker. Sie blieb stehen und sah sich um. Hinter ihnen ragten die Gipfel des Grenzgebirges hoch in den Nachthimmel. Es war Neumond und nur das Licht ein paar weit entfernter Sterne durchbrach die Dunkelheit. Schaudernd wandte Merla den Blick ab. Sie ließ nicht nur die Welt der Menschen, sondern auch die Existenz, die sie sich seit dem Aufstand vor beinahe dreihundert Jahren aufgebaut hatte, zurück, endgültig und ohne eine Möglichkeit der Rückkehr. Sie hatte auf diesen Tag gewartet, seitdem sie Larenia im letzten Frühling wiedergesehen hatte. Dieses Mal, da war sie sich sicher, würden sie etwas verändern und die Bewahrer würden sie nicht aufhalten. Warum also zögerte sie? Wovor sollte sie sich fürchten? Sie hatten ihr bereits einmal alles genommen, nun hatte sie nichts mehr zu verlieren. Nichts außer ihrer Hoffnung.
Die Nacht verbrachten sie im Schutz einer Felswand. Es war Neumond und viel zu dunkel zum Weiterlaufen. Am Abend des nächsten Tages erreichten sie die ersten Bäume und am darauf folgenden Tag ließen sie Schnee und Eis endgültig hinter sich und durchquerten den schmalen Waldstreifen, der die Sandlandschaft des Königreiches umschloss. Schließlich betraten sie, nach fünftägiger Wanderung, die Wüste von Hamada. Schnell fanden sie das Bett eines einstmals mächtigen Stroms, von dem jetzt kaum mehr als ein trübes Rinnsal übrig geblieben war. Sie folgten dem Flusslauf ins Innere der Wüste und nach weiteren fünf Tagen würden sie Anaiedoro, das Herz Hamadas erreichen.
Am Mittag des siebzehnten Tages des Monats, als Larenia, Arthenius und Merla durch den heißen Wüstensand wateten, verließ Rowena zögernd und vorsichtig durch einen Seiteneingang den Palast von Butrok. Allerdings hätte kaum jemand in diesem Moment die Nichte Baruks in ihr erkannt. Sie hatte den Morgen damit zugebracht, ihr Aussehen bis zur Unkenntlichkeit zu verändern.
Jetzt blieb sie an die Hauswand gedrückt stehen und sah sich ängstlich
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