Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
sich sicher, wieder aufleben würden. Plötzlich jedoch, inmitten seines Triumphes, schien es ihm, als würde die Sonne sich verdunkeln. Noch immer berauscht von diesem absoluten Machtgefühl, in das er sich hineingesteigert hatte, drehte er sich um und blickte in ein schmales, überirdisch wirkendes Gesicht.
„Du?“, seine einst angenehme Stimme klang schrill und dissonant: „Wie lange bist du schon hier?“
Mit einem leichten Schulterzucken kam Larenia näher: „Lange genug“, der Blick ihrer sonderbaren, verstörenden Augen erschreckte den Bewahrer, ohne dass er erklären konnte, warum, „ich warne dich dieses eine Mal, Valerian. Für jene, die sehen wollen, ist die Maske zerrissen. Die Zeit der Könige ist vorüber, aber auch das Zeitalter der Bewahrer neigt sich seinem Ende entgegen. Das solltest du bei all deinen großartigen Plänen nicht vergessen.“
Einen Moment lang sah sie ihn noch durchdringend an und zum ersten Mal in seinem Leben begann Valerian, an sich und seinen Zielen zu zweifeln. Dann wandte sie sich ab und seine Zweifel vergingen: „Willst du mir drohen?“
Sie blieb stehen und schüttelte den Kopf: „Das kann ich nicht“, sie drehte sich noch einmal um und sah ihn mit ihrem eisigen, gefühllosen Lächeln an, „wecke keine Kräfte, die du nicht beherrschen kannst. Das ist alles.“
Sie ging und Valerian sah ihr mit einem unwilligen Stirnrunzeln nach. Bedauerlich, überlegte er, dass man diese Macht, Larenias Gabe, die Herzen der Kandari zu beeinflussen, nicht nutzen konnte. Nicht einmal der Bewahrer selbst konnte sich ihrem Einfluss vollständig entziehen. Doch im nächsten Augenblick lachte Valerian wieder. War das jetzt noch wichtig? Wahrscheinlich würde er Larenia, die einst die Hoffnung der Bewahrer gewesen war, nicht wiedersehen, denn er wusste, auf welche Weise sie den brochonischen Druiden entgegentreten würde und welchen Preis sie dafür zahlen musste.
In Butrok schien die Zeit dahinzufliegen. Der Schnee schmolz und ließ matschige, verdreckte Straßen und graue Häuser zurück. Und dann kam der zwanzigste Tag des Monats Sécunda, der Tag, an dem die Flotte auslief. Seit dem frühen Morgen stand Pierre an der Reling eines riesigen, schwarzen Kriegsschiffes und beobachtete die hektisch scheinende, in Wirklichkeit aber lang geübte und wohlüberlegte Betriebsamkeit an Deck. Er kehrte in seine Heimat zurück.
Das hätte ein schöner Gedanke sein sollen. Seitdem Rowena ihn aus dem Gefängnis befreit hatte, arbeitete er auf diesen Moment hin. Und dennoch hatte die Erinnerung an Anoria einen schalen Beigeschmack, den er sich nicht erklären konnte. Was verband ihn mit Laprak? Er war beinahe zu Tode gefoltert worden. Sogar von seinem Standort aus konnte er Andra’graco, das Gefängnis der Brochonier erkennen, das in seiner ganzen finsteren Abscheulichkeit im Sonnenlicht vor der Küste lag. Auch danach hatte er in ständiger Furcht und Wachsamkeit gelebt. Und dann hatte man ihm eine Verantwortung aufgebürdet, der er nicht gewachsen war. Er war Waffenmeister, allenfalls Heerführer und als solcher war es nicht seine Aufgabe, über das Schicksal ganzer Völker zu entscheiden, und dennoch hatte er genau das getan.
Seufzend blickte er über die schwarze, glitzernde Wasseroberfläche zurück. Von Butrok war kaum noch die Silhouette am Horizont zu erkennen.
Es war nicht der Gedanke an den Krieg, der ihn erschreckte. Seit seinem zwanzigsten Lebensjahr war dies sein Beruf. Er war nicht gerade begeistert darüber, aber er hatte gelernt zu überleben, und in diese seiner Fähigkeiten hatte er volles Vertrauen. Doch jetzt ließ er jemanden zurück, der ihm sehr viel, unendlich viel bedeutete. Er wusste nicht, ob das, was ihn mit Rowena verband, wirklich Liebe war. Er glaubte es nicht, denn diese Empfindung ähnelte nicht dem an Besessenheit grenzenden Gefühl, das er von Larenia und Arthenius kannte. Und doch war Rowena ihm sehr wichtig. Sie waren beide einsam gewesen und hatten sich nach Wärme gesehnt. Jetzt war die erste berauschende Leidenschaft abgeklungen und zurückgeblieben war eine Freundschaft, die sich deutlich von dem, was er für die anderen Gildemitglieder empfand, unterschied. Er hatte nicht geglaubt, dass er jemals so viel Respekt und Zuneigung für einen Menschen empfinden könnte.
Mit dem Rücken lehnte er sich an das glatte Holz der Brüstung. Der Wind zerrte an seinem Mantel, seinem Haar und er war mit seinen Gedanken noch immer bei Rowena, als Norvan neben
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