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Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis der Kandari (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Tracy Schoch
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ihm an der Reling auftauchte.
    „Du wirkst so schwermütig. Trauerst du dem Leben im Exil etwa nach?“
    Pierre blickte in das Gesicht des Brochoniers, das dem seiner Schwester in keiner Weise ähnelte, doch er konnte keinen Spott in Norvans Miene erkennen und auch seine Stimme hatte freundlich geklungen ohne den misstrauischen, kritischen Unterton, an den sich Pierre so sehr gewöhnt hatte, dass ihm erst dessen Fehlen auffiel. Er zuckte mit den Schultern und starrte erneut in das dunkle Wasser, auf die gischtgekrönten Wellenkämme, die gegen das Schiff schlugen: „Nein, wahrlich nicht. Und dennoch …“, nachdenklich sah er zurück in Richtung Küste, die jetzt nur noch ein Streifen in weiter Ferne war, „manchmal denke ich, dass ich bei alldem sehr viel gewonnen habe.“
    „Trotzdem ist es für Rowena und dich vielleicht besser so“, Pierre hob die linke Augenbraue beinahe bis zum Haaransatz und Norvan beeilte sich zu erklären, „Menschen und Kandari sind nicht so verschieden, wie ich dachte, doch diese Verbindung hätte euch beide irgendwann unglücklich gemacht.“
    Der Kandari zuckte erneut mit den Schultern und blickte zu dem klaren, blauen Himmel hinauf: „Vielleicht“, sagte er, „und genau aus diesem Grund habe ich mich immer von euch Menschen ferngehalten.“
     
    Zur gleichen Zeit stand Rowena im Hafen von Butrok und beobachtete, wie die unzähligen Schiffe der brochonischen Flotte kleiner wurden und schließlich am Horizont verschwanden. Als auch das letzte der großen, schwarzen Kriegsschiffe zu einem kleinen Punkt in weiter Ferne verblasst war, hob sie ein unordentlich zusammengerolltes Bündel auf und blickte eine Weile bedauernd auf den dunklen, derben Stoff herab. Sie hätte dabei sein können. Gestern noch war sie wild entschlossen gewesen, sich dem Heer anzuschließen. Der Wind blies ihr die langen Locken ins Gesicht. Sie hatte bereits die Schere in der Hand gehabt, um dieses letzte verräterische Zeichen ihrer Identität zu beseitigen, doch dann hatte sie ein leises Klopfen an ihrer Tür unterbrochen. Ihr war kaum genug Zeit geblieben, um die Spuren ihrer Verkleidung und den Dolch, den sie sich von Norvan geliehen hatte, zu beräumen, bevor Pierre in ihr Zimmer getreten war …
    … er begrüßte sie mit seinem warmen Lächeln, das sie so sehr liebte und das jetzt schnell einem verwirrten Stirnrunzeln und einem aufmerksamen, beinahe wachsamen Blick wich. Rowena versuchte, nicht allzu schuldbewusst auszusehen, doch ihre unordentliche Frisur, ihr schmutziges Gesicht konnten ihm nicht entgehen. Zu ihrer Überraschung sagte Pierre jedoch nichts zu alldem. Stattdessen seufzte er nur leise und trat an ihr vorbei ans Fenster.
    Rowena wusste nicht, was sie davon halten sollte. Schon lange hatte sie das unbestimmte Gefühl, dass er genau wusste, was sie vorhatte. Ein paar Mal war sie ihm auf der Straße begegnet, doch er konnte sie in ihrer Verkleidung unmöglich erkannt haben.
    „Pierre?“, unsicher ging sie zwei Schritte auf ihn zu und blieb erneut stehen, „ich bin sehr froh, dich noch einmal zu sehen.“
    Ruckartig richtete er den Blick seiner blauen Augen auf ihr Gesicht und sie verstummte.
    „Du willst dich also der Armee anschließen?“
    Sie wusste, dass es sinnlos war, zu lügen. So ließ sie die Schultern hängen und senkte den Blick: „Woher …?“
    „Woher ich das weiß?“, er drehte sich um und lehnte sich gegen das Fensterbrett, „ich bin nicht blind. Du überredest mich, dir das Fechten beizubringen, du übst in jedem freien Moment und in den letzten Monaten hast du versucht, meine Bewegungen und Gesten und Norvans Aussprache zu imitieren. Ich kenne dich gut genug, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.“
    „Und was wirst du jetzt tun?“, fragte sie schließlich leise.
    „Tun?“, er verzog das Gesicht, als müsse er erst über die Bedeutung ihrer Frage nachdenken, „gar nichts. Es ist deine Entscheidung und du bist alt genug, um allein über dein Leben zu bestimmen“, sie sah ihn ungläubig an und Pierre lächelte leicht, „aber bevor du deine Wahl triffst, werde ich dir eine Geschichte erzählen. Setz dich.“
    Erstaunt setzte Rowena sich auf die Bettkante und sah ihn erwartungsvoll an. Einen Augenblick lang herrschte absolute Stille, während Pierre nach Worten suchte.
    „Nachdem Baruk Arida angegriffen hatte“, begann er endlich, „folgte eine lange Zeit, in der er die anderen Teile Anorias attackierte. Terranien fiel, die Arianer flohen und

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