Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
die Sterne schimmerten in ihrem fernen, silbrigen Licht, ein Leuchten, das aus einer anderen Welt zu kommen schien.
Langsam wich das samtige Dunkel dem ersten Licht der Dämmerung. Es war der vierte Tag des Monats, der gleiche Morgen, an dem sich Julius mit verquollenen Augen in den Sattel schwang, um mit seinen Gefährten nach Askana zu reiten. Allein stand Julien, der ehemalige König Anorias, auf der Freitreppe des Schlosses. Er blickte nach Osten. Mit verklärtem Gesicht beobachtete er, wie das tiefe Blau in ein dunkles Grau überging, in das sich zartes Rosa mischte. Ein Streifen am Horizont. Ein Versprechen …
Die Männer der Garde rannten an ihm vorbei und besetzten die Mauer des Schlosses. Tarak brüllte Befehle und die Schützen spannten ihre Bögen. Vor dem Tor erklangen die schweren Schritte der Stiefel der Brochonier …
Glühendes Rot überzog den östlichen Himmel. Ein warmer Windhauch fegte über den Schlosshof und wirbelte Staub und verwelkte Blätter auf. Vor Juliens Füßen blieben sie liegen. Ein Vogel sang. Süß und lieblich begrüßte er den neuen Tag. Und dann brach der erste goldene Sonnenstrahl durch die dicke Wolkendecke …
Der erste Schuss fiel. Schreie ertönten. Der Lärm des Kampfes hüllte die Straßen der Stadt, die Mauern, den Palasthof ein. Pfeile hagelten auf das weiße Gestein herab und das Blut von Feinden und Verteidigern besudelte die gepflegten Straßen …
Allmählich verblasste auch das Rot der Dämmerung. Die Sonne stieg höher und ihre wärmenden Strahlen ergossen sich über die Stadt der Könige. Julien spürte ihre Kraft. Tröstend strich die goldene Wärme über ihn hinweg. Das leise Rascheln des Windes mischte sich in den Vogelgesang und dann hörte er das entfernte Rauschen der Wellen, die sanft plätschernd gegen die Hafenmauer schlugen. Die Geräusche seiner Kindheit …
Feuer flammte auf, als die Brochonier das hölzerne Tor in Brand steckten.
„Zum Tor!“, schrie eine Stimme und die Männer der königlichen Garde stürmten auf die Lücke in der Mauer zu. Metall prallte klirrend auf Metall, die Schreie wurden lauter und der Vormarsch der Brochonier geriet ins Stocken …
Mittag war vorüber. Die Frühlingssonne verlor schnell ihre Kraft. Mit einem letzten Blick auf seine Stadt wandte Julien sich ab. Mit langsamen, zugleich würdevollen Schritten betrat er den verwaisten Palast. Seine Finger strichen über die kunstvollen Säulen, die Ornamente, einzigartig in ihrer Kunstfertigkeit. Seine Schritte hallten unnatürlich laut in dem Gang wider. Ein letztes Mal …
Tarak trat mit rußigem Gesicht zurück und blickte auf das Chaos aus kämpfenden Körpern und züngelnden Flammen, die immer weiter um sich griffen. Er würde die Brochonier nicht mehr lange aufhalten können …
Ein letztes Mal blieb Julien vor der hohen Flügeltür des Thronsaals stehen. Noch immer hing das Wappen des vereinten Königreiches über der Tür: die silberne Taube auf blauem Grund unter einer goldenen Krone. Ein Symbol des Wohlstandes, ein Sinnbild des Friedens. Dann trat er durch die Tür und schritt auf den Thron zu, wie er es so oft getan hatte …
„Zieht euch zurück!“, die Brochonier hatten die Verteidiger bis vor die Tore des Palastes zurückgetrieben. „Zurück ins Schloss!“
Tarak riss die Torflügel auf und dirigierte seine Männer ins Halbdunkel der Eingangshalle. Als der letzte Gardist über die Schwelle gestolpert war, verkeilte er die Tür. Er wusste, dass auch dies ihre Feinde nicht lange aufhalten würde …
Julien hörte die Schreie. Langsam erhob er sich von seinem Thron und verließ den Saal. Er stieg die Treppe hinab in den Keller. Die Farben des Tages verblassten. Schließlich bestand die ganze Welt nur noch aus Schwarz und Weiß. So betrat er den Taktikraum, ihre letzte Zuflucht …
Es waren nur zwanzig Männer, denen die Flucht in den Keller des Schlosses gelungen war. Aneinandergedrängt standen sie da. Sie wussten, dass es vorbei war, dass es dieses Mal kein Entkommen geben würde. Angst zeichnete ihre Gesichter. Immer wieder drehten sie sich zu Julien um, der hinter dem Tisch mit der Karte Anorias stand und mit einem ruhigen, verklärten Lächeln zu ihnen hinabblickte. Für ihn gab es keine Furcht, keine Verzweiflung. All das lag weit hinter ihm.
„Dies ist also unser Ende, Tarak, mein Freund“, Julien drehte sich zum Hauptmann der Garde um, der seinen Blick gefasst erwiderte, „unsere Zeit ist gekommen. Wir lassen Anoria in guten
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