Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Gebirgspass überquert hatten, irrten sie durch dieses waldige Land. Heute war der vierte Tag des Monats Tértia, der siebente Tag ihrer Reise.
Mit einem leisen Seufzen wandte Sibelius seinen Blick von den Wäldern des Grenzgebietes Anorias ab und tätschelte geistesabwesend den Hals seines Pferdes. Nachdem er mehr als ein Zeitalter unter der gleißenden Wüstensonne verbracht hatte, erschien ihm das Zwielicht der Bäume düster und bedrohlich. Einst hatte auch er in diesem grünen Land gelebt, aber seitdem war sehr viel Zeit vergangen und heute war es kaum mehr als der Schatten einer Erinnerung.
„Sibelius?“, die ungehaltene Stimme des Königs riss den Heerführer der Kandari aus seinen Gedanken: „Ich spreche mit dir. Was hat diese Verzögerung zu bedeuten?“
Gelassen zuckte Sibelius mit den Schultern: „Das weiß ich auch nicht. Dieser Halt entspricht nicht meinen Befehlen“, er sprang aus dem Sattel und warf einem der Gardisten die Zügel zu.
„Wartet einen Augenblick, mein König.“
Zielsicher ging er auf einen grün gekleideten Späher zu, der in respektvollem Abstand und beinahe unsichtbar im dichten Unterholz wartete. Laurent beobachtete voller Ungeduld, wie sie einen Augenblick lang miteinander sprachen. Vergeblich versuchte er, den Gesichtsausdruck seines Heerführers zu deuten. Dann stand Sibelius wieder vor ihm.
„Ihr solltet mit mir kommen, mein König“, er stieg wieder auf sein Pferd und bedeutete den Gardisten, die sich ihm anschließen wollten, zurückzubleiben, „es gibt Neuigkeiten, die Euch interessieren werden.“
Der König der Kandari bedachte seinen obersten Heerführer mit einem zutiefst sarkastischen Blick: „Hättest du jetzt vielleicht die Güte, mir mitzuteilen, was hier geschieht?“ Manchmal trieb ihn Sibelius’ eigenwilliges Verhalten beinahe in den Wahnsinn. Doch dieser lächelte nur: „Wie es scheint, hat Larenia weiter vorausgeplant, als wir vermutet haben.“
Fragend hob Laurent die Augenbrauen, woraufhin das Lächeln seines Gegenübers noch breiter wurde: „Wir sind auf eine Gruppe Waldläufer gestoßen, die uns hier erwartet hat. Sie sagen, sie wollen das alte Bündnis zwischen Kandari und Menschen erfüllen. Und sie haben eine alte Schuld zu begleichen.“
„Waldläufer“, wiederholte Laurent vorsichtig und sah seinen Begleiter an, als zweifle er an dessen Verstand. Er blickte mit unwillig zusammengezogenen Augenbrauen an Sibelius vorbei.
„Menschen“, flüsterte er verächtlich und wandte den Blick ab. Laurent war in seinem Leben nur wenigen Menschen begegnet und das den Kandari eigene Misstrauen und die über unzählige Generationen gewachsenen Vorurteile saßen tief.
„Sie können nützliche Verbündete sein“, bemerkte Sibelius in neutralem Tonfall, „und sie kennen dieses Land und unseren Feind. Vergesst das nicht, mein König.“
Zweifelnd schüttelte Laurent den Kopf, aber er antwortete nicht. Stattdessen hüllte er sich in würdevolles Schweigen, das er auch dann nicht aufgab, als sie den Waldläufern schließlich gegenüberstanden. Doch sosehr der König sich auch bemühte, kühl und unnahbar zu wirken, vor Sibelius konnte er sein Erstaunen nicht verbergen, als er dem Anführer der Waldläufer zum ersten Mal gegenüberstand.
Im ersten Moment hielt er den großen, blonden Mann in seinem grün-braunen Mantel für einen seiner Soldaten. Dann erst, als ihn der Fremde voll offener Neugier und ohne jede Spur des gewohnten Respekts musterte, wurde ihm bewusst, dass dies kein Kandari sein konnte. Verärgert zog er die Augenbrauen zusammen und überlegte, was er von der offenkundigen Unhöflichkeit des Menschen halten sollte. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich noch, als der Waldläufer entgegen jeder Tradition auf ihn zutrat, sich förmlich, aber ohne die geringste Spur von Demut, verbeugte und zu sprechen begann: „Willkommen. Eure Anwesenheit in Anoria ehrt uns“, er verneigte sich erneut und wartete das angedeutete Nicken des Kandari-Königs ab, bevor er weitersprach: „Mein Name ist Loran. Ich bin der Anführer der Waldläufer Arianas. Wenn ihr es wünscht, werden wir euch von diesem Punkt an führen und euch im Kampf unterstützen“, all das sagte er langsam und bedächtig, jedoch ohne zu stocken, in der Sprache der Kandari. Doch Laurent blieb misstrauisch.
„Warum sollte ich dir vertrauen? Du könntest ein Spion der Brochonier sein. Und ich werde das Schicksal meines Volkes nicht in die Hand eines Menschen legen“, feindselig
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