Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
inzwischen nach Mitternacht, hockte Merla neben dem Anführer der Waldläufer hoch über der Befestigungsanlage der Brochonier. Nur der gefährliche Abstieg über die steile Bergwand, die Loran erwähnt hatte, trennte sie jetzt noch vom Lager ihrer Feinde. Lange blickten sie auf das brochonische Feldlager hinab, dann kehrten sie nahezu lautlos zum Rest der Vorhut, die zwischen den Bäumen verborgen wartete, zurück.
„Acht Wachtürme auf der Ostseite“, flüsterte Merla, „und das große Tor.“
Die dunklen Gestalten um sie herum nickten. Sie konnte nicht erkennen, ob es Menschen oder Kandari waren, denn die königlichen Gardisten hatten ihre schweren Rüstungen abgelegt und alle Mitglieder der Vorhut trugen die gleichen grün-braunen Mäntel, die sie mit dem nächtlichen Wald verschmelzen ließen.
„Wir werden uns aufteilen“, erklärte Loran, die Stimme zu einem leisen Murmeln gedämpft, „acht Fünfer-Gruppen, die sich um die Wachtürme kümmern und eine Zehner-Gruppe, die dafür sorgt, dass das Tor im richtigen Moment geöffnet wird. Wird das Heer rechtzeitig vor der Wachablösung hier sein?“, diese letzte Frage galt Merla.
Konzentriert zog sie die Augenbrauen zusammen, dann nickte sie: „Sie werden hier sein. Achtet darauf, dass in jeder Gruppe wenigstens ein Kandari ist, damit wir in Kontakt bleiben können.“
„Wenn ihr auf Feinde trefft“, ergänzte Loran, „dann tötet sie schnell und leise. Wir können keinen offenen Kampf riskieren. Werden wir entdeckt, bevor die Armee der Kandari eintrifft, ist alles verloren. Gibt es Fragen?“, nur Stille antwortete ihm und so richtete er sich nach einem weiteren Augenblick auf; „Dann geht es los.“
Schnell und nahezu lautlos kletterten die fünfzig Mitglieder der Vorhut die Steilwand hinab und verschwanden im brochonischen Lager. Loran, Merla und ihre acht Begleiter gingen als Letzte. Mit gezogenen Waffen huschten sie von einem Schatten zum nächsten. Schließlich erreichten sie das Tor. Noch schien alles ruhig zu sein und nach Plan zu laufen, denn von keinem der Wachtürme war auch nur ein Laut zu hören.
Einen Augenblick lang verharrte Merla vollkommen bewegungslos mit dem Rücken an die Mauer gepresst und lauschte, doch außer dem leisen Atemgeräusch der neun anderen war nichts zu hören. Dann trat sie einen Schritt vor und blickte sich aufmerksam um. Zwei schmale Treppen führten links und rechts der Torflügel in die Höhe. Bereits auf den ersten Blick konnte Merla sechs Brochonier sehen, die auf der Mauer Wache hielten. Acht Wächter, korrigierte sie sich, als sie noch einmal genauer hinsah. Geöffnet wurde das riesige Tor über eine Art Seilwinde, die noch einmal von fünf Männern bewacht wurde. Außerdem konnten sich in den Aufgängen mühelos weitere Brochonier verbergen. Nach einer letzten abschließenden Musterung ihrer Umgebung trat sie zurück in den Schatten und blickte mit fragend hochgezogenen Augenbrauen zu Loran. Dieser deutete, ohne zu zögern, auf die Wachen an der Seilwinde und legte gleichzeitig den Zeigefinger seiner linken Hand über seine Lippen. Merla verstand ihn sofort. Mit einer Handbewegung lenkte sie die Aufmerksamkeit der Gardisten und Waldläufer auf sich. Dann zog sie in einer einzigen fließenden Bewegung ihren Dolch und schleuderte ihn zielsicher nach dem nächsten Brochonier. Das Geräusch des zu Boden fallenden Körpers klang unnatürlich laut in der Stille des nächtlichen Lagers. Aber den anderen Wachen blieb keine Zeit mehr, zu reagieren oder auch nur einen Laut von sich zu geben, denn im nächsten Augenblick wurden sie von Merlas Begleitern getötet.
Dies alles geschah innerhalb eines einzigen kurzen Momentes. Dann war alles vorbei und der kleine Spähtrupp verschmolz wieder mit dem Hintergrund. Nur Loran blieb noch einen Augenblick länger ungedeckt stehen, schließlich trat er sogar näher an ihre gefallenen Feinde heran und beugte sich kurz über sie.
„Sie sind tot“, flüsterte er, als er wieder neben Merla stand. Diese nickte und zeigte gleichzeitig auf die Mauer über ihnen. Von ihrem Standpunkt aus waren die acht Wächter gut zu sehen. Der Waldläufer stimmte zu. Behutsam, um kein unnötiges Geräusch zu verursachen, zog er einen Pfeil aus seinem Köcher und spannte seinen Langbogen. Neben ihm imitierten Waldläufer und Kandari seine Bewegung. Einen Augenblick lang, eine Ewigkeit, so erschien es Merla, zielten sie sorgfältig. Dann erklang Lorans scharfes
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