Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
sich damit, ein paar Pfeile auf die Mauern zu schießen, die jedoch kaum Schaden angerichtet haben. Das war alles. Seitdem warten sie.“
Er wandte sich an Larenia, die nachdenklich an ihm vorbeiblickte und seine letzten Worte nicht gehört zu haben schien: „Was denkst du?“
Ruckartig richtete sie ihre Augen wieder auf sein Gesicht: „Du hast recht. Sie haben gewartet. Doch jetzt werden sie angreifen“, sie lächelte ihr eisiges, kompromissloses Lächeln, das für ihre Feinde nichts Gutes ahnen ließ, „sie wollten, dass wir alle hier sind. Niemand sollte ihrer Rache entgehen. Nun gibt es keine Zweifel mehr. Dies ist die letzte Nacht in der Welt, die wir kannten. Was sich auch immer morgen ereignet, dieses Anoria wird nicht mehr existieren.“
Traurig sah Philipus auf sie herab. Er wusste, was sie nicht aussprach, welche Rolle sie in diesem Kampf spielen würde.
„Du musst das nicht tun, Larenia“, flüsterte er und seine Stimme klang sonderbar gedämpft in der Stille der Nacht, „es gibt noch immer einen anderen Weg. Wir können kämpfen. Das Heer der Kandari wird bald hier sein und zusammen können wir die Brochonier besiegen.“
Sie sah ihn warm und voller Verständnis an: „Vielleicht könnten wir das, aber es würde unendliches Leid heraufbeschwören, nicht nur für die Anorianer, sondern für alle Menschen und Kandari. Wie viele Unschuldige sollen noch sterben, so wie Julien und Tarak, Cameon und all die anderen, an die sich niemand mehr erinnern wird? Warum sollte mein Leben mehr wert sein als das ihre? Glaubst du, ich könnte damit leben, mit dem Wissen, dass es meine Schuld war, dass ich die Möglichkeit hatte, es zu verhindern?“
Lange Zeit antwortete Philipus nicht. Er suchte fieberhaft nach einem Ausweg, doch schließlich gab er es auf: „Nein“, er seufzte und senkte den Blick, „das könntest du wohl nicht.“
„Es ist die einzige Möglichkeit, Philipus“, sie blickte auf ihre Hände herab, aber ihre Stimme klang so ruhig, als würde sie das Schicksal eines anderen diskutieren. Philipus schauderte.
„Ein Neuanfang für diese Welt, die seit Jahrtausenden nichts als Hass und Gewalt, Krieg und Rache gesehen hat. Ich hoffe nur, sie haben aus der Vergangenheit gelernt, denn eine weitere Chance wird es kaum geben“, sie bemerkte, dass Philipus sie ungläubig anstarrte und lächelte, „du verstehst nicht, dass ich mein Leben so leichtfertig wegwerfen kann. Aber du irrst dich“, einen Moment lang saß sie still da, den Blick ihrer blauen Augen ins Leere gerichtet, dann sagte sie langsam und mit deutlicher hörbarem Akzent, „es ist mir nicht leicht gefallen. Ich habe nach einem Ausweg gesucht und eine Zeit lang hätte ich jeden akzeptiert und sei es ein Kampf mit unzähligen Opfern. Doch welchen Wert hätte ein solches Leben gehabt, das ich mit dem Blut anderer erkauft hätte? Nachdem ich das begriffen hatte, wurde es in gewisser Weise leichter … und unendlich schwerer. Jetzt gibt es keinen Rückweg mehr. Ich habe nahezu jeden verletzt, der mir jemals etwas bedeutet hat, ich habe jedes Ideal verraten, an das ich jemals geglaubt habe …“, sie sprach nicht weiter, sie konnte es nicht. Schlagartig verschwand ihre mühsam aufrechterhaltene Selbstbeherrschung. Sie wandte den Blick ab, doch Philipus sah den gequälten, schmerzerfüllten Ausdruck in ihren Augen. Gleichzeitig erinnerte er sich an Arthenius’ zutiefst entsetzten und zugleich verzweifelten, abgestumpften Gesichtsausdruck und langsam begann er, zu begreifen: „Irgendwann wird er es verstehen, Larenia. Arthenius liebt dich mehr als alles und jeden anderen auf dieser Welt. Es gibt nichts, was er dir nicht verzeihen würde.“
Sie schüttelte entschieden den Kopf, und als sie schließlich sprach, klang ihre Stimme müde und hoffnungslos: „Das kann er nicht, dafür habe ich gesorgt. Es war falsch, aber sonst hätte er meine Entscheidung nicht akzeptiert“, erneut standen Tränen in ihren Augen und dieses Mal kämpfte sie nicht dagegen an, „ich wünschte nur, ich hätte ihm ein einziges Mal gesagt, was ich für ihn empfinde. Aber ich konnte es nicht“, sie vergrub ihr Gesicht in ihren Händen und Philipus, der bewegungslos neben ihr saß, fühlte sich unendlich hilflos. Dann hob sie einem plötzlichen Entschluss folgend den Kopf: „Wirst du mir ein letztes Mal helfen?“
Philipus nickte wortlos und im nächsten Augenblick schlossen sich ihre eisig kalten Finger um seine Hand. Dann fühlte er die Berührung ihrer
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