Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Gedanken, behutsam und fragend zuerst, doch als er sich nicht wehrte, überschwemmte ihr Denken sein Bewusstsein. Für den Bruchteil eines Augenblickes teilte er jede Erinnerung, jeden Gedanken, jedes Gefühl, dann, als er glaubte, diese Fülle an Emotionen nicht mehr ertragen zu können, ließ sie ihn los und er war wieder allein. Er blickte auf Larenia herab und er hatte das Gefühl, sie jetzt erst wirklich zu sehen. Plötzlich verstand er all ihre Handlungen, jeden Schritt in ihrem Leben und er wusste, was sie von ihm wollte.
„Jetzt noch nicht“, der Blick ihrer sonderbaren Augen fesselte ihn und ihre Stimme klang eindringlicher und um so vieles wirklicher denn je, „erst, wenn er nichts mehr ändern kann.“
Philipus nickte und beobachtete, wie sie aufstand.
„Sorge dafür, dass mir niemand zu nahe kommt.“
Erneut nickte er: „Ich weiß. Ich verspreche es.“
Sie lächelte und für einen kurzen Moment verschwammen Gegenwart und Vergangenheit. Noch einmal hatte Philipus das Gefühl, dem Mädchen gegenüberzustehen, dem er vor mehr als dreihundert Jahren in Asana’dra begegnet war und das sein Leben entscheidend beeinflusst hatte. Dann drehte sie sich um und verschwand lautlos in der Dunkelheit.
Ein letzter Morgen …
Auf der Aussichtsplattform des höchsten Turmes der Burg, weit über der Stadt, stand Julius und blickte auf die nächtliche Ebene herab. Es war noch sehr früh, die dunkelste Zeit der Nacht zwischen Monduntergang und Morgendämmerung, dennoch konnte er die schwarzen Schatten des brochonischen Heerlagers deutlich erkennen. Seufzend lehnte sich der junge König Anorias gegen die Mauer. Sicherlich würden sie Askana, die letzte Zuflucht seines Volkes, bald angreifen und er sollte die Zeit nutzen, um sich auszuruhen, doch er konnte es nicht. Nachdem er sich die halbe Nacht unruhig hin und her geworfen hatte, war er, getrieben von seiner Rastlosigkeit, aufgestanden und hierhergekommen. Jetzt stand er hier, auf dem Aussichtsturm der Burg, sah auf die Überreste seines Königreiches herab und dachte mit einem leichten Lächeln an den Frühling vor einem Jahr. Damals war er gerade aus Komar nach Arida zurückgekehrt und seine größte Sorge waren die ewigen Streitereien seiner Eltern und seine Abneigung gegen seine eigenen repräsentativen Pflichten gewesen. Ein ganzes Menschenleben schien seitdem vergangen zu sein …
Plötzlich rissen ihn eine Bewegung links neben ihm und das Aufblitzen von Silber aus seinen Erinnerungen. Seine Hand schloss sich instinktiv um den Griff seines Schwertes, als er einen Schritt zur Seite sprang und sich gleichzeitig umdrehte. Aber schon im nächsten Moment entspannte sich seine Haltung.
„Larenia!“, sein erschrockener Gesichtsausdruck wich Überraschung und Wiedersehensfreude: „Seit wann bist du wieder da? Und“, fügte er mit einem Seitenblick auf die Armee vor den Toren seiner Stadt hinzu, „wie ist es dir gelungen, da hindurchzugelangen?“ Dann begegnete er ihrem Blick, bemerkte ihr amüsiertes Lächeln und gewann seine Fassung zurück: „Was ich sagen wollte, ist: Es ist schön, dass du wieder da bist.“
„Ich freue mich auch, dich zu sehen“, doch noch, während sie sprach, verblasste ihr Lächeln. Stattdessen musterte sie Julius aufmerksam und dabei blieb ihr Blick an dem goldenen Stirnreif hängen, den er inzwischen trug, ohne es bewusst wahrzunehmen. Und wie schon einmal zuvor glaubte Julius das Klirren von Metall auf Stein zu hören, eine Erinnerung, die ihm nicht gehörte. Schließlich löste sie den Blick von seinem Gesicht und lehnte sich neben ihm mit dem Rücken an die Mauer. Selbst in der Dunkelheit schien ihr weißes Haar zu schimmern und einen Augenblick lang starrte Julius sie fasziniert an, dann sprach sie mit leiser, klarer Stimme, die nichts von ihren Gedanken oder Gefühlen verriet: „Es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist. Und doch war es für Julien wahrscheinlich der einzige Weg. Er hätte diesen Anblick nicht ertragen.“
Julius nickte langsam: „Ich weiß. Ich glaube, ich habe es von Anfang an gewusst“, leiser und nach merklichem Zögern fügte er hinzu, „ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich es kann.“
Larenia antwortete nicht sofort. Eine Weile sah sie den jungen Mann scharf und prüfend an, bevor sie mit einem sonderbar verstehenden Lächeln erwiderte: „Das wirst du müssen. Keiner von uns konnte sich seine Aufgaben aussuchen, aber du hast die nötige Kraft, die deine zu
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