Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
erfüllen.“
Verwundert zog Julius die Augenbrauen hoch, doch dann zuckte er nur mit den Schultern: „Vielleicht.“
Auch Larenia sagte nichts mehr. Ihre Gedanken schienen abzuschweifen und sie blickte nachdenklich an ihm vorbei ins Nichts. Eine Weile schwiegen sie beide, schließlich aber wandte Julius sich erneut an die Gildeherrin und fragte leise und zaghaft: „Was wird jetzt geschehen?“
Sie zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn kritisch an: „Die Brochonier werden uns morgen angreifen, das weißt du so gut wie ich.“
Verwirrt und beunruhigt erwiderte er ihren Blick, dann schlug er die Augen nieder: „Und was soll ich jetzt tun?“
„Was glaubst du, tun zu müssen?“, verstört sah er sie an und sie seufzte leise: „Du musst aufhören, dich so bedingungslos auf uns zu verlassen. Egal, was ich dir sage, letztendlich ist es deine Entscheidung und ich kann sie dir nicht abnehmen. Du bist nun König von Anoria und es ist deine Aufgabe, nach deinem Ermessen zu handeln. Du kannst die Verantwortung nicht ständig anderen zuschieben. Wir werden nicht immer da sein. Und außerdem brauchst du mich hierfür nicht. Du weißt bereits, was geschehen muss.“
Einen Moment lang versuchte er zu ergründen, was sich hinter diesen Worten verbarg, und seine Unruhe wuchs, aber schließlich nickte er: „Wir werden die Brochonier so lange wie möglich aufhalten. Doch wir können sie nicht besiegen, dafür sind wir einfach zu wenige. Wenn sie die Stadt erobern …“
„So weit wird es nicht kommen“, antwortete sie ruhig und mit unerschütterlicher Sicherheit, „dieser Kampf wird nicht auf dem Schlachtfeld entschieden. Dies ist meine Aufgabe und die des brochonischen Widerstandes. Alles, was wir brauchen, ist etwas mehr Zeit, Zeit, die du uns verschaffen kannst.“
Julius nickte erneut und dabei dachte er an die Menschen, die morgen sterben würden und die nicht mehr als ein Bauernopfer sein würden. Schnell schob er diesen Gedanken beiseite und gleichzeitig fiel ihm etwas anderes ein: „Larenia?“, sie hob den Kopf und sah fragend zu ihm auf, „warum bist du hier? Ich meine, warum bist du allein hier und nicht bei den anderen Gildemitgliedern?“
„Um meinen Teil der Aufgabe zu erfüllen“, sie hob die Schultern, doch dieses Mal blieb ihr Gesichtsausdruck vollkommen ernst, „und um eine alte Schuld zu sühnen.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Das musst du auch nicht“, sie lächelte auf eine Weise, die Julius nie zuvor bei ihr gesehen hatte. Es ließ sie menschlicher und zugleich überirdischer denn je wirken. „Vielleicht fragst du irgendwann Philipe oder, noch besser, Philipus danach.“
Julius holte bereits Luft für eine weitere Frage, doch dann gab er es auf. Er hatte beinahe vergessen, dass es nahezu unmöglich war, eine direkte Antwort von ihr zu bekommen. Und so wandte er nur den Blick ab und sah wieder auf die nächtliche Ebene herab. Langsam verging die Nacht und der östliche Himmel färbte sich zuerst grau, dann blau und schließlich golden, als die ersten Sonnenstrahlen durch die dichte Wolkendecke schienen.
„Du solltest jetzt gehen, Julius“, Larenia trat zwei Schritte zurück, „und sorge dafür, dass niemand, an dessen Leben dir etwas liegt, in die Nähe dieses Turmes kommt.“
Sie klang noch immer ruhig, doch hinter ihrer Ruhe verbarg sich eine finstere Entschlossenheit, die Julius nicht verstand.
„Larenia –“
„Geh jetzt!“, und dieses Mal duldete ihr Tonfall keinen Widerspruch. Zögernd wandte sich der König ab und verließ die Aussichtsplattform, doch lange noch glaubte er, ihren Blick auf sich ruhen zu fühlen.
Larenia wartete, bis seine Schritte verklungen waren, dann schloss sie die Augen. Und noch einmal hörte sie das leise Rauschen des Windes, sie fühlte den wärmenden Sonnenschein auf ihrer Haut und das Leben, das sie selbst jetzt, inmitten des Krieges und der Vernichtung, umgab. Schließlich aber hob sie den Kopf und gleißend helles, bläuliches Licht flammte auf und hüllte sie ein. Dieses Mal kostete es sie kaum Überwindung, ihre ganze unglaubliche Kraft einzusetzen. Sie hatte alles, was in ihrer Macht stand, getan, um diese Welt zu schützen. Dies war nur der letzte Schritt.
Weit unterhalb der Burg stand François umringt von Menschen in der vordersten Reihe des Heeres der Verteidiger. Im ersten blassen Morgenlicht konnte er die Bogenschützen erkennen, die auf der Mauer standen, die Bögen griffbereit, und warteten, ebenso wie die
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