Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
Wirklichkeit.
„Die Brochonier haben uns den Krieg erklärt“, müde sah er Patricia an. Er hatte alles getan, um den Frieden zu bewahren, doch von ihr erwartete er kein Verständnis.
Patricias Gesichtsausdruck wurde bei diesen Worten hart und angriffslustig: „Das hast du doch gewollt. Du hättest dich anders entscheiden können.“
Julien seufzte: „Für uns gab es keine andere Wahl.“
„Für uns?!“, Patricia schrie jetzt, „du hast uns nie gefragt! Für dich gibt es nur die Gilde! Auf den leisesten Wink der Gildeherrin würdest du alles opfern. Du würdest dein Land, dein Volk, ja sogar deinen Sohn opfern für ein Lächeln von ihr! “ Patricia hatte sich zu einem hysterischen Kreischen gesteigert. „Ich hasse sie, sie alle. Und ich hasse dich! Du denkst nicht daran, was das Beste für dein Volk ist. Du denkst nur daran, wie du ihnen helfen kannst!“
Julien zeigte sich wenig beeindruckt vom Wutausbruch der Königin. Er hatte diese Szene schon zu oft erlebt. Aber diesmal hatte Patricia ihn verletzt. Obwohl er sich offiziell entschieden hatte, zweifelte er noch immer an seinem Entschluss. Der Krieg war unausweichlich, das hatte er inzwischen erkannt. Alles, was er noch tun konnte, war, seine Verbündeten zu wählen, doch er war sich nicht sicher, ob er für sein Volk die richtige Entscheidung getroffen hatte. Er achtete die Gilde und ihre Fähigkeiten, aber was sie allein gegen die Brochonier tun konnten, war ihm ein Rätsel. Vielleicht gab es auch keine richtige Entscheidung.
Julien sprach keinen dieser Gedanken laut aus. Stattdessen seufzte er leise: „Was wirfst du der Gilde eigentlich vor? Ihren Einfluss? Ihre Macht? Geht es dir überhaupt um die Gilde der Zauberer oder“, zum ersten Mal in diesem Gespräch sah er Patricia direkt an, „um Larenia? Und was hältst du ihr vor? Dass sie dein Leben zerstört hat, indem sie mir eine friedliche Einigung mit deinem Clan empfahl, und ich dich daraufhin heiratete? Oder dass sie in hundert Jahren noch immer genauso aussehen wird wie heute und du mit jedem Tag etwas von deiner Jugend und Schönheit verlierst?“
Patricia erwiderte seinen Blick. Dann sagte sie leise und verbittert: „Beides.“
Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ sie den Thronsaal. Julien sah ihr lange nach, dann senkte er traurig den Blick. Einst hatte er geglaubt, sie könnten zusammenleben. Liebe hatte er sich nicht erhofft, doch mit Respekt hätte er leben können. Jetzt gab es nichts mehr zwischen ihnen außer Verbitterung und Hass.
Patricia war fast zwei Tage lang unterwegs. In Arida, da war sie sich sicher, würde man sie nicht vermissen. Sie hatte lange über ihren nächsten Schritt nachgedacht, aber nachdem sie sich einmal entschieden hatte, blickte sie nicht mehr zurück und so erreichte sie am Abend des sechsten Tages des Monats Quintéa Navalia, die Stadt der Schiffbauer. Warum sie ausgerechnet hierher geritten war, konnte sie nicht mit Sicherheit sagen. Doch mit sonderbarer Gewissheit wusste sie, dass sie hier ihrem Ziel näher kommen würde. Wenn Julien sein Volk blind in den Untergang führen wollte, würde sie ihn daran hindern. Auch sie wollte kein sinnloses Sterben, aber noch weniger konnte sie ein Anoria ertragen, das auf ewig den Kandari verpflichtet war.
Patricia wagte es nicht, die Stadt zu betreten, darum wartete sie außerhalb der Stadtmauer in einem Wäldchen. Doch sie musste nicht lange warten.
Das Gefühl von kaltem, scharfkantigem Metall an ihrem Hals riss die Königin aus ihren Gedanken. Die Klinge eines Dolches. Sie wagte nicht zu atmen, obwohl sie der kalte, spöttische Klang der Stimme eines Mannes dicht an ihrem Ohr schaudern ließ.
„Hier haben wir also eine Frau, die ihren König und ihr Land verraten will.“
Er lachte leise, ließ sie aber nicht los.
„Vielleicht verrate ich Julien, aber nicht mein Volk“, sie versuchte, sicher und bestimmt zu klingen, doch ihre Stimme zitterte und ihre Worte wirkten trotzig. Dies schien den Brochonier noch viel mehr zu amüsieren.
Ein Rascheln hinter ihr verriet Patricia, dass sie nicht allein waren. Dann sprach ein anderer Mann. Er schaffte es, gleichzeitig mürrisch und ehrerbietig zu klingen: „Seid Ihr sicher, dass dies keine Falle ist?“
„Ich erkenne echten Hass, wenn ich ihn sehe. Diese Frau hasst die Kandari genauso wie wir“, dann verschwand jede Spur von Belustigung und Patricia verstand zum ersten Mal das Grauen und die Furcht, die jeden befiehl, der mit den Brochoniern zu tun
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