Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
den Arianern und hatten sich in Form der Gilde als wertvolle Ratgeber und Freunde der Anorianer erwiesen.
Aber Elaine kannte die Fürsten zu gut, um auf eine schnelle Einigung zu hoffen. Eugen von Aquanien schloss sich zwar meistens Julien an, doch versuchte er vorher, die Bedeutung seiner Stellung durch Einwürfe, endlose Diskussionen und konträre Meinungen hervorzuheben. Ciaran Roy von Firanien ging ähnlich vor, doch waren seine Motive anderer Art. Er versuchte vor allem, die Unabhängigkeit seines Clans gegenüber der Krone zu bewahren. Elaine respektierte Ciarans Einstellung, obwohl sie wie Logis die Einigkeit des Reiches an oberste Stelle setzte. Cordac von Terranien dagegen schien selten zu verstehen, um was es ging. Er war ein freundlicher Mann mittleren Alters, der sich als Bauer sicherlich besser gefühlt hätte denn als Oberhaupt eines Fürstentums. Eigentlich hätte seine Frau Rosaria im Rat sitzen müssen, doch so weit gingen die Anorianer in ihrem Streben nach Gleichberechtigung nun auch nicht.
Julien war ein guter König, dem das Wohl seines Volkes am Herzen lag, doch manchmal dachte Elaine, dass Anoria mit einem weniger gerechten und dafür entschlussfreudigeren und durchsetzungsfähigeren Herrscher besser gedient wäre. Zu viele Dinge wurden zerredet und unnötig in die Länge gezogen.
Inzwischen waren der Mittag und der frühe Nachmittag vergangen. Elaine war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie die plötzliche Unruhe der Wachen zuerst nicht bemerkte. Erst das Geräusch schwerer Schritte, die vom Steinboden des Ganges widerhallten, ließ sie aus ihren Überlegungen hochschrecken.
Sie sprang auf und blickte interessiert den Gang entlang. Im Eingangsbereich war eine Gestalt aufgetaucht, die sich mühsam vorwärts auf die verschlossene Tür der Ratshalle zuschleppte. Sie kam nur langsam voran und das Gehen bereitete ihr sichtlich Mühe. Auch die beiden Wachen schienen zu erkennen, dass von dieser Erscheinung keine Gefahr ausging, dennoch blieben sie wachsam, und als der Neuankömmling näher kam, kreuzten sie ihre Lanzen und der ältere der Wächter sprach ihn an: „Fremder, wir können Euch nicht zum König vorlassen, denn heute ist Ratstag. Wenn Ihr eine Audienz wünscht, kommt morgen wieder.“
Inzwischen war auch Elaine näher herangerückt. Aufmerksam musterte sie den Fremden. Er trug einen schwarzen Mantel und auch das Haar war offensichtlich schwarz gefärbt gewesen, doch jetzt schimmerte verräterisches Rot durch die Farbe, was ihn als Firanier verriet. Kein anderer Clan hatte derart feuerrotes Haar. Auch das Gesicht des Mannes kam ihr vage bekannt vor. Und dann erkannte sie ihn, obwohl zwischen diesem erschöpften, verwundeten Mann in dem zerfetzten Mantel und ihrer Erinnerung kaum noch Ähnlichkeit bestand.
Hastig trat sie auf die Wachen zu: „Lasst den Mann durch. Erkennt ihr ihn denn nicht? Das ist Cameon, der beste Spion in Anoria!“
Die Wächter zögerten. Einen Augenblick schienen sie ratlos und der jüngere hätte gewiss die Tür geöffnet, doch der ältere hielt ihn im letzten Moment zurück: „Der Rat darf nicht gestört werden, aus welchem Grund auch immer.“
„Der Mann ist verletzt. Wahrscheinlich hat er eine wichtige Botschaft. Wenn der König sie wegen eurer Engstirnigkeit nicht hören kann, werdet ihr es zu verantworten haben!“ Das war Elaines einziges Druckmittel, nun konnte sie nur hoffen, dass es wirkte.
Tatsächlich öffneten die Wächter nach kurzem Zaudern die Tür. Cameon schien noch einmal seine letzte Kraft zusammenzunehmen. Dann trat er in den Saal. Mühevoll legte er die letzten paar Schritte bis zu Juliens Thron zurück. Hier fiel er auf die Knie.
Schon bei seinem Eintreten war Ciaran, der Fürst der Firanier, aufgesprungen. Fassungslos starrte er den zu Tode erschöpften Mann an. Erst Juliens Frage schien ihn in die Gegenwart zurückzurufen: „Wer ist dieser Mann?“
Die Stimme des Königs klang erstaunlich ruhig und beherrscht und seine Ruhe erstickte jede Aufregung bereits im Keim.
„Er ist mein Vetter, mein König. Sein Name ist Cameon und er ist der beste Spion in Anoria. Ich hatte ihn ausgeschickt, um Informationen über die Brochonier zu sammeln.“
Alle Anwesenden, einschließlich der beiden Wachen und Elaine, sahen jetzt den Verletzten an. Cameon rang nach Luft und dann gelang es ihm, wenn auch nur mühsam, zu sprechen: „Mein König, Ihr könnt den Brochoniern nicht vertrauen. Sie werden uns vernichten, egal ob wir uns mit
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