Das Vermächtnis der Kandari (German Edition)
dass das nächste größere Ereignis im Schloss stattfinden würde. Doch was immer es war, es würde sich wahrscheinlich erst am Ende der Ratsversammlung ereignen. So begann sie, langsam durch die inzwischen belebten Straßen bergauf zu wandern.
Seit ihrer frühesten Kindheit war Elaine oft in Arida gewesen. Als sie fünf Jahre alt gewesen war, war ihre Mutter Eliza gestorben. Seitdem hatte sie Logis auf jeder seiner Reisen begleitet. So kam es, dass sie bereits jetzt, mit neunzehn Jahren, einen Großteil des Königreiches Anoria sowie die Oberhäupter der vier Clans und nahezu alle bedeutenden Persönlichkeiten des Reiches kannte. Doch Arida, die Stadt der Könige, war etwas Besonderes. Sie war das Sinnbild des Wohlstandes und der Macht der Menschen. Sogar hier, im unteren Ring der Stadt, waren alle Häuser aus weißem Gestein erbaut. Die Straßen waren auch im Armenviertel breit und von Orangen- und Zitronenbäumen und Palmen gesäumt. Und umso höher Elaine kam, desto größer und schöner wurden die Häuser.
Nach einiger Zeit durchschritt sie das Westtor der inneren Stadtmauer. Hier, im Schatten des Palastes, lag das Villenviertel. Die Anwesen waren prachtvoll, die Straßen weniger belebt, denn hier gab es keine Märkte wie in den Handwerker- und Bauernvierteln. Einige Mägde und Knechte eilten geschäftig hin und her, gepflegt aussehende Menschen in prächtigen Kleidern promenierten durch die Alleen und die Stadtwachen patrouillierten durch die Straßen.
Elaine blieb stehen und sah dem Geschehen zu. Das war ihre Welt, eine Welt, die man durch ein günstiges Schicksal oder Zufall der Geburt betrat. Und doch erschien ihr alles traumhaft und unwirklich. Es war eine Illusion, mühsam aufrechterhalten, die durch einen einzigen Windhauch in sich zusammenfallen konnte. Diese Menschen sonnten sich in der Glorie lang vergangener Zeiten und im Glanz der Könige. Von den nun heraufziehenden Schatten wussten sie nichts. Seufzend wandte sich Elaine von der bunten Scheinwelt ab und trat durch einen schmalen Durchlass in der Palastmauer.
Innerhalb des Palastes war es sehr still. Das überraschte Elaine nicht. Sie hatte schon viele Ratstreffen erlebt und daher wusste sie, dass diese Versammlungen endlos dauerten und dass selten etwas entschieden wurde. Dafür gab es zu große Spannungen und zu verschiedene Vorstellungen über Politik und das richtige Vorgehen.
Traditionell bestand der Rat aus den Oberhäuptern der vier Fürstentümer, dem König, seinem Stellvertreter und der Königin. Außerdem hatte die Gilde der Zauberer das Recht, mit drei Vertretern an den Ratssitzungen teilzunehmen. Allerdings machten sie von diesem Vorrecht selten Gebrauch und noch seltener geschah es, dass Larenia persönlich erschien. Elaine war ihr nur wenige Male begegnet und sie begriff nicht, warum ein ganzes Volk vor der Macht dieser kleinen, zierlichen Elfe erzitterte.
Inzwischen hatte Elaine den hohen Säulengang erreicht, der zur Ratshalle führte. Wie alles hier war er aus weißem Gestein erbaut mit hochgelegenen Fenstern, durch die das Sonnenlicht schien. An den Wänden prangten altertümliche Wappen, welche die vier Fürstentümer symbolisierten. Und am Ende des Ganges über der schweren Holztür, die zur Ratshalle führte, hing das Sinnbild des Vereinigten Königreiches: eine silberne Taube auf blauem Grund und darüber eine goldene Krone.
Vor der Tür waren zwei Wachen postiert, denn während der Rat tagte, durfte niemand die Halle betreten. Elaine nickte den Wachen grüßend zu, dann setzte sie sich auf eine Bank an der Seite des Ganges. Sie würde warten. Und was immer auch geschehen würde, hier konnte es ihr nicht entgehen.
Der Vormittag schleppte sich dahin und bald erschien Elaine, die an Untätigkeit nicht gewöhnt war, die Zeit des Wartens als sehr lang. Sie versuchte sich vorzustellen, was im Rat vor sich gehen mochte. Durch Logis hatte sie von dem Ultimatum der Brochonier erfahren. Sie hatten den Anorianern ein Bündnis gegen die Elfen, die sie zu hassen schienen, angeboten, doch ebenso klar war, dass sie Neutralität nicht akzeptieren und als Aggressivität gegen das Volk Lapraks werten würden. Für Elaine war die Lage klar und sie verstand das Zögern des Rates nicht. Von den Brochoniern wussten sie nichts, außer dass sie ein gewalttätiges, kriegerisches Volk waren mit einer ziemlich einseitigen Auffassung von Recht und Unrecht. Die Elfen dagegen lebten zurückgezogen, unterhielten ein paar Handelsbeziehungen zu
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